Eine Gewehrkugel kann verdammt weh tun

von Wolf Christian von Wedel Parlow

P. Beckert, Heldentod © Archiv Musenblätter
Eine Gewehrkugel kann verdammt weh tun
 
Walter glaubte, noch gerade gehen zu können. Die Freunde riefen ihm nach, ob sie ihn nicht nach Hause bringen sollten. Er lehnte ab. Sie trauten ihm wieder einmal nicht zu, daß er soviel Bier vertrug. Bei Rot über die Allee – kein Problem zu dieser späten Stunde. Dann links in die Haspeler Schulstraße. Er kannte sich aus hier. Immer den Berg hoch. Er ging wie ein Automat. Sein Kopf war leer. Über die Elberfelder Straße, durch die Bahnunterführung, über die Mauerstraße, immer geradeaus. Einmal mußte er sich an dem Gestrüpp festhalten, das hier aus dem Gehsteig wuchs. Es wurde ihm doch nicht etwa schwindlig? Er schüttelte den Kopf. Soviel Bier war es doch gar nicht. Und die paar Schnäpse. Alles nur, weil sie sich wegen Christopher Clarks Schlafwandler in den Haaren gelegen hatten. Nicht aufgeben, ermannte er sich.
Im Müll-Museum brannte noch Licht. Da drin hatten sie auch schon mal gesessen, fiel ihm ein, mit einer Frau, die sie alle drei in Unruhe versetzt hatte. Unruhe war eigentlich das falsche Wort. Ein besseres fiel ihm gerade nicht ein. Daß er nach Wörtern suchte, wertete er als gutes Zeichen. Vielleicht hatte er den toten Punkt schon überwunden.
An der Ritterstraße wurde es plötzlich hell. Die ganze Straße dröhnte. Ach ja, die Jacquard-Maschinen von Kruse & Söhne. Natürlich, das Heer brauchte jetzt Litzen für neue Uniformen. War nicht gestern allgemeine Mobilmachung? Zum Glück war er schon zu alt. Oder sollte er sich nicht doch noch freiwillig melden? Für Schreibstubenarbeit taugte er allemal.
Wie schön doch die Haspeler Schulstraße war, all die prächtigen Fassaden! So hatte er die Straße noch nie gesehen. Wo hatte er bisher nur seine Augen gehabt? Zwei Berittene kamen die Schulstraße herauf, uniformiert, Pickelhauben auf dem Kopf. Reiter hatte er hier noch nie gesehen. Und wie laut das Hufgeklapper war! Er fasste sich an den Kopf. Stimmte etwas nicht mit ihm?
Was tat der eine Reiter da, der auf seiner, auf Walters Seite? Er blieb bei Nr. 22 stehen, direkt neben ihm, neben Walter, zog ein Papier aus der Umhängetasche und rief: „Scharpenack, Hans. Gestellungsbefehl“. Der Reiter wartete eine Weile und griff schon nach seinem Horn, als sich die Haustür öffnete und eine junge Frau erschien, hinter ihr drei Kinder, das jüngste vielleicht sechs.
„Er ist drüben beim Kruse. Wovon sollen wir denn leben, wenn er keinen Lohn mehr nach Hause bringt?“ Sie rang die Hände.
„Keine Angst, junge Frau! Es ist für alles gesorgt. Seinen Sold holen Sie jeden Monat bei Ihrem Postamt ab.“
„Und wenn ihm was passiert?“ Mit der Schürze wischte sie sich die Tränen ab.
„Ach was! Die Franzmänner reißen aus vor uns.“ Er lachte und ritt zum nächsten Hauseingang.
Es war die Nr. 24. Wieder zog er so ein Papier aus der Tasche. „Herlinghaus, Wilhelm“, rief er, „Gestellungsbefehl“. Er wartete. Die Tür blieb verschlossen. Der Soldat nahm das Horn zur Hand. Es klang entsetzlich, wie eine Tröte. Auch danach tat sich nichts. Aber überall kamen jetzt Kinder aus den Häusern und blieben bei dem Soldaten stehen. So viele Kinder hatte Walter hier noch nie gesehen. Und warum saßen die jetzt nicht in der Schule? Waren etwa noch Ferien?
Ein Mädchen hielt dem Pferd auf der flachen Hand ein Stück Brot hin. Es kicherte, als das Pferd das Stückchen Brot zwischen seine weichen Lippen nahm. „Wie das kitzelt!“ Sofort kramten andere Kinder in ihren Hosentaschen, ob sie nicht auch einen Rest Brot hätten. Sie wollten das Kitzeln auf ihrer Hand spüren. Der Soldat lächelte unter seiner Pickelhaube. Er war schon alt. Sein Schnurrbart war silbergrau. Vielleicht war er schon Großvater.
Inzwischen hatte sich im zweiten Stock von Nr. 24 ein Fenster geöffnet. „Von den Herlinghaus ist niemand da. Die Frau ist einkaufen gegangen, und der Mann schafft drüben bei Kruse & Söhne. Wie fast alle hier“, rief die Frau herunter.
Ob sie ihm bitte den Gestellungsbefehl übergeben wolle, rief der Soldat. Es klang wie ein Befehl, fand Walter. Sie komme herunter, antwortete die Frau.
Auch der andere Reiter war dabei, Gestellungsbefehle zuzustellen. Auf der anderen Straßenseite, auf der Seite mit den ungeraden Hausnummern. Auch er wurde von immer mehr Kindern umringt. Bald herrschte auf der schmalen Straße ein dichtes Gedränge von Kindern. Sie kamen von oben und unten gelaufen, voller Neugier, was sich hier tat. Langsam schob sich der Schwarm die steile Haspeler Schulstraße hinauf, überragt von den beiden Reitern, die den Namen der Empfänger der Gestellungsbefehle immer lauter ausrufen mußten, um das aufgeregte Geplapper der Kinder zu übertönen.
Zwischendurch flaute der Lärm etwas ab, wurde es fast still, wenn eine Frau zu weinen begann, weil der Soldat ihr gerade einen Gestellungsbefehl in die Hand gedrückt hatte. Betroffen sahen die Kinder zu ihr hin. Die wenigsten wußten, was das hieß: Gestellung und warum die Frauen weinen mußten, wenn der Soldat ihnen einen Gestellungsbefehl gab.
„Was heißt das: Gestellung?“, fragte ein barfüßiges Mädchen von vielleicht fünf.
„Er muß in den Krieg ziehen, Dummerchen“, erklärte der große Junge in ausgefransten kurzen Hosen neben ihr, auch er barfuß.
„So schnell geht das nicht“, verbesserte ihn der schmächtige Junge, der das Mädchen an der Hand hielt. „Er muß sich erst in einer Kaserne melden, bei einem bestimmten Bataillon. Dort bekommt er eine Uniform und ein Gewehr. Erst dann geht es in den Krieg.“
„Und wenn er noch gar nicht gelernt hat, mit dem Gewehr umzugehen, du Schlaumeier?“, wies ihn der große Junge zurecht. „Er muß erst einmal schießen lernen und in Reih und Glied marschieren üben. So schnell geht es nicht in den Krieg.“
„Und was heißt Krieg?“, fragte wieder das kleine Mädchen.
„Du fragst Sachen; Kindchen!“, grinste der Große. „Stell dir vor, hier stehen wir, dort drüben stehen die Franzmänner. Unser Offizier brüllt: ‚Feuer frei!’ Wir schießen, und die Franzmänner laufen weg.“
„Und der Krieg ist aus! Du hast ja keine Ahnung“, lachte ihn der Schmächtige aus.
„Gib nicht so an, du Depp! Meinst du, ich erklär’ ihr den ganzen Krieg, wenn sie wissen will, was Krieg heißt? Klar ist jedenfalls, daß wir im Vorteil sind, wenn wir als erste schießen. Denn dann laufen die anderen weg.“
„Und schießen, was heißt schießen?“, wollte das Mädchen wissen.
„Warst du schon einmal auf dem Jahrmarkt?“, fragte der große Junge.
Das Mädchen nickte.
„Und hast du dort die Schießbuden gesehen?“
Wieder nickte das Mädchen.
„Dann hast du auch gesehen, wie die Männer dort Blumen von der Wand zu schießen versuchen, bunte Blumen aus Papier, rote Rosen zum Beispiel. Wenn sie treffen, gehört die Rose ihnen. Die schenken sie dann dem Mädchen, das neben ihnen steht.“
„Mir hat noch keiner eine rote Rose geschenkt“, sagte das Mädchen.
„Vielleicht weil du noch so klein bist Wenn du größer bist, gehen wir zusammen auf den Jahrmarkt, und ich schieße für dich eine rote Rose von der Wand.“
„Erzähl doch nicht so einen Quatsch, Mann!“, rief der Schmächtige. „Du wolltest ihr das Schießen erklären und kommst ihr mit roten Rosen. Komm, Emily, wir gehen weiter.“
„Gib nicht so an, Hannes! Jetzt weiß sie vom Schießen schon verdammt mehr, als du denkst. Und daß es verdammt weh täte, wenn man von so einem Luftgewehr getroffen würde. Und dann erst von einem richtigen Gewehr.“
„Was tut denn dabei so weh?“, wandte sich Emily an den großen Jungen.
„Wenn einer einen Stein nach dir wirft, bekommst du höchstens einen Kratzer. Es tut weh, klar. Aber bald vergißt du den Schmerz. Eine Gewehrkugel kann dir verdammt mehr weh tun, wenn sie dich trifft. Weil sie in dich eindringt, weil du blutest. Du kannst davon sterben.“
„Aber ich will nicht, daß man auf mich schießt. Warum machen sie überhaupt diesen Krieg?“
„Weil Rußland angefangen hat.“
Walter versuchte mit den dreien Schritt zu halten. Aber das Gedränge war zu groß. Er verlor sie aus den Augen. Die beiden Reiter waren schon in die Hirschstraße eingebogen, die lärmenden Kinder immer hinterher. Werner Lindenbeck bekam auch einen Gestellungsbefehl. Das hörte Walter deutlich. Immer schneller schob sich die Menge voran. Nochmals ging es den Berg hinauf und links herum in die Iltisstraße. Das kann nicht sein, hier wohnte er doch. Mußte er etwa selbst in den Krieg?
Was blendete ihn nur so? Er hob die Hand vor die Augen.
„Das könnte er sein. Die Beschreibung stimmt. Langes blasses Gesicht, weiße Haare“, sagte der Mann mit der Taschenlampe.
„Er rührt sich. Den ersten Rausch scheint er ausgeschlafen zu haben“, sagte der andere.
„Sie werden vermißt. Können Sie sich denken, von wem?“, fragte der Mann mit der Taschenlampe.
„Aber das wäre doch nicht nötig gewesen“, wehrte sich Walter gegen die beiden hilfreichen Hände.       
 
 
© 2013 Wolf Christian von Wedel Parlow