Fundgrube für Schatzsucher

Matera und seine Sassi - Ein Buch von Donato Cascione

von Joachim Klinger

Fundgrube für Schatzsucher
Matera lohnt immer!
 
 
In meinem Reisebericht aus Süditalien „Matera 2009” habe ich ein Museum besonderer Art vorgestellt: das Werkstattmuseum bäuerlicher Kultur und alter Handwerke des Sammlers und Dichters Donato Cascione im Sasso Barisano. Nun liegt in dritter Auflage sein wunderbares Buch „I racconti del Museo” (Geschichten aus dem Museum) vor – Museo-Laboratorio della Civiltà Contadina e degli Antichi Mestieri – www.museolaboratorio.it - . Ein wahrer Schatzbehalter!
 
Was sind „Schätze”? Gold, Juwelen, Reliquien, Kunstwerke, Ausgrabungsfunde werden in der Öffentlichkeit als solche präsentiert und akzeptiert. Aber es gibt auch Dinge, die in rein subjektiver Sicht den Charakter von Schätzen annehmen, z.B. alte Erinnerungsfotos, Liebesbriefe und kleine Handarbeiten von Kindern.
Das Museum von Donato Cascione versammelt in zahlreichen Grotten Haushaltsgegenstände und Arbeitsgerät aus vergangenen Zeiten. Aus den Zeiten, als die Sassi-Höhlen in Matera bewohnt waren, als die Sassi-Bürger in drangvoller Enge mit ihren Tieren zusammen lebten, fast in Tuchfühlung mit Nachbarn, ohne tätige medizinische und soziale Hilfe. Das Maß der Armut kann man sich kaum

Donato Cascione, Joachim Klinger pinx.
vorstellen.
Natürlich lassen uns die Möbel, die Ausstattungsgegenstände, Geschirr, Geräte usw. ahnen, wie ein Wohnraum im Grottendunkel aussah und wie es den Familien ergangen sein muß. Man spürt, welche Bedeutung der irdene Krug und die große Teigschüssel gehabt haben müssen. Manches Handwerkszeug gibt eine enge Beziehung zum arbeitenden Menschen preis. Mit welcher Intensität und Liebe z.B. Prägestempel für das Brot geschnitzt worden sind. Wie viele innige Bitten ein Kruzifix in sich aufgenommen haben mag.
 
Aber Donato Cascione beschränkt sich nicht auf Gegenstände, so viel sie auch aussagen mögen. Er hat mit alten Bewohnern der Sassi-Höhlen gesprochen und zugehört. Aus vielen und langen geduldigen Gesprächen hat Donato Cascione Texte gefiltert, die eindringlich sind und einem nicht selten „unter die Haut gehen”.
Z.B. die Geschichte von dem verletzten Kind, das der Vater heim in die Höhle schleppt und das längst tot ist, wie die Großmutter feststellt.
Z.B. die Geschichte von der heilkundigen Frau, der Helferin in vielen Nöten, die nur eine Gegenleistung erwartete: Zuneigung.
Wir hören und verstehen, wie die Großmutter zur Überbrückung qualvoller Wartezeiten den hungrigen Kindern Märchen erzählte.
Oder wie ein Alter nach der Umsiedlung aus dem Höhlenbereich in die moderne Siedlung „auf der Höhe” nachts nicht schlafen konnte, weil er den warmen Atem seines Maultieres nicht mehr spürte.
 

Matera, Sasso Caveoso - Joachim Klinger pinx.
Als nach dem Kriegsende der in den Süden verbannte jüdische Arzt, Schriftsteller und Maler Carlo Levi die Lage der armen Höhlenbewohner in Matera angeprangert hatte, kam es unter der Regierung De Gasperi zu einem gewaltigen Bauprogramm und einer Umsiedlungsaktion. Helle Wohnungen mit Bad und WC! Aber wo ließ man die Hühner, Schweine und Esel?
 
Manche Sassi-Bewohner wollten zurück in ihre Höhlen. Aber die Eingänge wurden zugemauert.
Viele litten unter dem Entzug der vertrauten Umgebung. Was ihnen besonders kostbar und liebenswert erschien, nämlich die in Wachs geformten Engel, Heiligen, das Christkind unter dem Glassturz, trugen sie in Kirchen. Bald schmückten Hunderte dieser Devotionalien die Altäre.
 
Donato Cascione hat den ehemaligen Höhlenbewohnern nicht eine Stimme gegeben, er hat ihre Stimme bewahrt. Und er streut in die Texte immer wieder eigene Gedichte ein, die mit beschwörenden Worten Menschen, Dinge und Situationen zurückholen und lebendig werden lassen, wie die Gedichte:
„Das Maultier - Der Esel - Die Ziege – Hände - Zehn Nägel und mehr”.
Im Gedicht „Jene Männer” heißt es:
 
            „Jene Männer hatten kein Lachen.
            Und Worte nur, wenn unbedingt nötig.
            Sie gingen nicht zart mit ihren Frauen um,
            unfähig zu Liebkosungen und Schmeicheleien.”
 
Ja, es bedurfte wohl eines Dichters, um die Schätze der Erinnerung zu bewahren! Das Buch „I racconti del Museo” ist für Interessenten deshalb leichter zugänglich, weil es zweisprachig erschienen ist – Italienisch und Englisch. Das Fotomaterial eröffnet mit eindrucksvollen Bildern – Blicke in das Museum und Dokumentationen aus vergangenen Zeiten – die Gelegenheit der Besichtigung und der historischen Schau.
Vielleicht verstehen es doch die Künstler am besten, uns an die Hand zu nehmen und in die Welt zu führen.
 
Zusammen mit dem Buch erhielt ich einen Katalog „Paesaggio A Sud Est” von Nicola D’Imperio.

Matera, Ruine im Sasso Caveoso - Joachim Klinger pinx.
Landschaftsbilder mit den kargen Feldern und Felsen Apuliens und der Basilicata. Aber auch Olivenbäume, die der Trockenheit trotzen. Und Herden von Schafen, die nach Gräsern und Kräutern suchen. Welche Lebenskraft in dieser Einsamkeit und Ödnis!
In seiner Einleitung schreibt der Maler Nicola D’Imperio, der lange Jahre als Arzt praktiziert hat: „Der Olivenbaum und das Schaf – sie haben in Jahrhunderten, Jahrtausenden, seit dem Entstehen der Geschichte und der Zivilisation, in den Ländern, die von unserem Meer umspült werden, dauerhafte und wesentliche Präsenz.”
Auch diese Bilder eröffnen den Zugang zur spröden Landschaft bei Matera und zum Geist des Südens.
 
Wie schön, daß Nicola D’Imperio inmitten der Sassi eine Galerie unterhält, die Künstlern Gelegenheit zur Ausstellung ihrer Werke gibt!
 
Berlin, den 25. September 2013              
Joachim Klinger

Weitere Informationen: www.museolaboratorio.it/