Großer Häuptling

von Karl Otto Mühl
Großer Häuptling
 
Marek kam aus seiner Werkstatt, als ich auf den Hof fuhr. Mein Blinker tickte aufgeregt und schnell, eine Birne oder eine Sicherung schienen mir kaputt zu sein. Ringsum schritten entschlossene junge Männer mit Schraubenschlüsseln in der Hand um Autos herum, aber Marek ließ sich nicht ablenken. Er hatte meine Motorhaube geöffnet und in wenigen Minuten den Schaden behoben.
 
„Fertig“, sagte er. „Aber ich soll Ihnen noch etwas ausrichten. Cheyenne möchte, daß Sie eine Geschichte über sie schreiben.“
Ich erklärte Marek, daß ich heute nur noch ganz selten Geschichten erfände, eigentlich gar nicht. Ich schriebe nur auf, was ich bei Anblick von Leben und Welt fühlte und dächte.
„Das ist ihr egal“, sagte Marek. „Sie will ihre Geschichte.“
 
Die Sache wurde ernst. „Ich werde da in die Ecke fahren“, sagte ich, „mich zurücklehnen und das Ganze überdenken“.
„Fahren Sie nur da hin“, sagte Marek. „Da stört Sie niemand.“
Ich mag das gern – wenn das Leben wieder einmal sanft dahin rauscht und ich zusehen kann. Die Sonne wärmt mich, aber die Luft, die durch das halb geöffnete Wagenfenster hereinströmt, ist dennoch frisch genug.
 
Cheyenne ist ein hübsches, achtjähriges Mädchen. Marek hat mir erzählt, daß sie einen Regenwurm, der von einem Auto überfahren wurde, gesund gepflegt hat. Schlimme Freunde haben ihn mit einer Schnur gefangen, in die Höhe gezogen, baumeln lassen -  
„Spring! Spring, Würmchen!“ hat sie meines Wissens gerufen, aber der Regenwurm sprang dann so hoch, daß er aus ihrem Gesichtskreis entschwand; es heißt, er gelangte in den Würmerhimmel, was nicht ganz stimmen kann. Wenigstens nicht so, denn Menschen und Würmer lagen da durcheinander, ja, sie unterhielten sich sogar, auf Augenhöhe, würde man heute sagen –
 
Der Wurm, der Kevin hieß, muß dort oben ein gutes Wort für Cheyenne eingelegt haben. Jedenfalls kam eine Indianereskorte auf HONDA-Motorrädern und lud Cheyenne ein, dem Stamm der Cheyenne einen Besuch abzustatten. Man warte bereits auf sie, nachdem man soviel von ihr gehört habe. Daß es sich bei den Boten um echte Indianer handelte, sah man an dieser typischen Frisur, die weit in die Stirne reichte und an den Zöpfen. Wahrscheinlich hatte Winnetou denselben Friseur.
Zwischen den Wigwams standen die Indianer, teilweise in Kriegsbemalung, und riefen: „Heil Cheyenne, der Regenwurmfreundin.“ Und dann faßten sich die Indianer an den Händen, tanzten im Kreis um Cheyenne herum und sangen das Lied vom Wigwam.
„Gefällt es dir hier bei uns?“ wurde Cheyenne gefragt. „Wir suchen gerade einen Häuptling. Du könntest das auch sein.“
Und da machte Cheyenne diesen atemberaubenden Vorschlag. Sie würde, zumindest während der Schulzeit, hier die Häuptlingsaufgaben übernehmen, aber sie brauche dazu einen Schriftsteller, der ihre Anweisungen überzeugend formulieren könne.
 
Und da war er schon, der Schriftsteller, und er sah mir sogar etwas ähnlich, glaube ich. Cheyenne aber sah nur ein breit lächelndes, gütiges Gesicht, von goldenem Sonnenlicht umstrahlt, das sie ansah. „Du bist das wunderbarste Mädchen, das es hier gibt, und nur du kannst Häuptling sein.“ Das klang wie Musik in ihren Ohren.
Der Schriftsteller aber ritt längst auf die Blauen Berge zu, Cheyennes große Schwester hinter sich auf dem Pferd, die Silberbüchse neben sich. Die Schwester legte den Kopf auf seine Schulter, um mit geschlossenen Augen auszuruhen –
 
„Ich glaube, Sie wollen jetzt nach Hause fahren“, sagte Marek zu mir. „Sie haben ein bißchen geschlafen, glaube ich.“
 
 
 
© 2013 Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern