Die Tänzerin

Eine Erzählung

von Jürgen Koller

Die Tänzerin


Schneeregen hüllte  die Straßen in kaltes Grau. Vom Hafen her drückte ein böiger Wind die Gerüche nach faulendem Fisch, verbranntem Schweröl und heißem Teer in die verwinkelten Quartiere der Altstadt. Ein nicht mehr junges Paar drückte sich eng umschlungen an den Hauswänden entlang. Der Mann hatte seine derbe Wetterjacke geöffnet und diese mit um die Schultern seiner Begleiterin gelegt. Der modische Tuchanzug der Frau troff vor Nässe und war an den Beinen zu einem formlosen  Etwas verquollen.
Unter einem Dachvorsprung  verharrten beide einen Moment. Der Mann beugte sich zu seiner Frau, zog sie an sich und gab ihr einen regennassen Kuß. Danach lachten beide – der Mann, weil die ausgelaufene Wimperntusche auf den Wangen seiner Frau zwei schwärzliche Bächlein hinterlassen hatte und die Frau, weil der naß herabhängende Schnauzbart das Gesicht ihres Mannes so traurig machte.
„Welcher Teufel hat uns geritten, im Dezember an die polnische Ostseeküste zu fahren, nur um Antiquitäten zu ergattern?“, sagte der Mann, weniger als Frage, denn als Feststellung.
Scheinbar ziellos streifte das  Paar weiter durch die vor Nässe triefende Stadt. Ohne sich abgesprochen zu haben, wie von einer unsichtbaren Macht geleitet, lenkten sich ihre Schritte durch die verwinkelten Gassen, vorbei an Altstadthäusern mit Kramläden und Fischerkneipen. Vor dem halbblinden Schaufenster eines Trödlerladens hielten sie inne.

Die Frau mußte vor Aufregung schlucken, dann sagte sie halblaut, aber so, daß ihr Mann es noch verstehen konnte: ”Sie ist noch da!“
Da stand sie, die Plastik einer Tänzerin in patinierter Bronze, kaum dreißig Zentimeter hoch, zwischen all dem wertlosen, verstaubten  Plunder vergangener Jahrzehnte und der lieblos drapierten Weihnachtsdekoration.
Stundenlang hatten die beiden am Abend zuvor über diese kleine Art-déco-Figur geredet; eigentlich weniger über die Figur als über den alten polnischen Juden, der sie so barsch aus seinem Laden gewiesen hatte.

Das deutsche Paar war am Vortage beim Stromern durch die trostlose polnische Stadt bei eben diesem Trödler gelandet. Das Stöbern in Trödlerläden und die Suche nach kleinen Skulpturen bereitete beiden sichtlichen Genuß. Das verspielte Befingern der kühlen Bronze- oder Porzellanfiguren übte auf beide etwas erotisches aus. Dabei war das  Stöbern, das Finden und das zeitliche Zuordnen, aber auch das Feilschen um den Preis das Kribbelnde, nicht unbedingt der Besitz. Sie konnten sich stets von solchen Dingen wieder trennen, um ein noch reizvolleres Stück zu erwerben.
Gleich beim ersten Blick in das Schaufenster hatten beide das Besondere an dieser kleinen Bronzetänzerin bemerkt. In der Figur war genau das erfaßt, was die Zwanziger Jahre als ”Rhythmischen Ausdruckstanz” hervorgebracht hatten - leidenschaftliche  Expressivität, Geschmeidigkeit der Bewegung und einen unendlich biegsamen,  knabenhaft schlanken Frauenkörper. Die Tänzerin war verführerisch modelliert – dekorativ und raffiniert zugleich.

Aber was war das Faszinierende? War es der fast rechtwinklig zurückgebogene Oberkörper des grazilen Mädchens, dessen linkes Bein federnd bis in die Zehenspitzen dem Ganzen Halt bot? Oder war es das rechte Bein, im Schritt nach vorn leicht angewinkelt und den Fuß gestreckt, um so in der Bewegung zu verharren, damit der Betrachter den leidenschaftlichen Tanzschritt noch erahnen kann? Oder war es, die Linie des Oberkörpers und des Mädchenkopfes nach hinten verlängernd, der rechte, ausgestreckte Arm mit der leicht abgeknickten Hand, die drei schmale Bänder hielt? Waren es diese ‚seidenen‘ Bänder, die der Dynamik des Tanzschrittes folgend, sich zu schmalen, bronzenen Parallelkreisen formten, um so den Sockel der Figur aufzufächern? Oder war es gar der linke Arm, der mit anmutiger Geste in den Freiraum des von den Bändern gebildeten Kreises ragte?
Es war wohl erst die Summe all dieser maßvoll ausgeformten Details, die sich zum reizvollen Ganzen der metallnen Tänzerin fügten.

Das Paar hatte tags zuvor  geraume Zeit  die Bronze-Figur in der Schaufensterauslage betrachtet und dann im Gleichklang des Gedankens gesagt: „Laß uns reingehen!”
Die Jugendstil-Glastür hatte abscheulich gequietscht. Im düsteren Zwielicht des Ladens war niemand auszumachen. Erst nach einem Moment  zaudernden Umsichschauens hatten sie den kleinen Mann gesehen, der zwischen seinem Trödel saß und spürbar widerwillig von seiner Zeitung aufblickte.
Als höfliche Deutsche sagte die Frau laut und deutlich: “Guten Tag, wir möchten...”
Weiter kam sie nicht mit ihrem Wunsch, ihrem Mann blieb sein Gruß im Halse stecken als der Alte aus seiner Ecke mit scharfen Worten zischte: “An Deitsche verkauf ich nicht! Geht zurück nach Deitschland! Was wollt ihr hier?”, und noch schärfer,  fast im geschnarrten Appell-Ton  hatte er hinzugefügt: “Haut ab nach Berlin, aber schnell!”
Und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hatte er nach einer Glaskaraffe gegriffen, bereit, diese seinen Kunden nachzuschmeißen.
Nach kurzem Zögern, das Unverständnis über das eben Erlebte noch auf den Gesichtern, hatten die beiden den Trödelladen verlassen. Die Glastür war scheppernd ins Schloss gefallen...

„Geh’n wir jetzt nochmal zu dem Alten, aber diesmal lassen wir uns nicht so einfach rausschmeißen“, sagte der Mann mit fester Stimme. 
Seine Frau ordnete ihr verregnetes Haar und machte ihr Gesicht etwas zurecht, dann betraten beide erneut den Laden des Trödlers.
Der Alte schlurfte ihnen entgegen und murmelte: „Schon wieder ihr Deitsche“, und eine Nuance freundlicher setzte er nach: “Ich mag Leit wie eich nicht; ihr mit eirer preißsch-korrekten Art!“
„Wir sind Touristen und möchten uns die Bronzetänzerin aus dem Schaufenster anschauen“, erwiderte der Mann ohne Schärfe, während sich seine Frau interessiert im Laden umsah.

Nach einer Weile wortlos gespannter Ruhe sagte der Alte in Richtung des Mannes:
„Dann hol’ in Gottes Nam die Figur aus‘m Fenster, aber vorsichtig! Mir macht heit die Gicht zu schaffen“.
Sein Blick streifte vom Gesicht der Frau für eine kurze Sekunde zu deren knapp sitzenden Pullover. Die Frau errötete und zog ihre vom Regen zerknautschte, offenstehende Jacke vorn zusammen. Der Alte fühlte sich ertappt, aber seine Miene hellte sich auf und er verschwand kommentarlos in einem Kabuff, noch bevor sein Kunde, ohne Scherben gemacht zu haben, die Bronzetänzerin auf dem Verkaufstisch abgestellt hatte.
Mit einer Flasche Wodka und einem angeschmuddelten Küchentuch in der Hand kam der Alte zurück und sagte fast schon fürsorglich: „Du wirst Dir bei dem Wetter noch den Tod holen, junge Frau aus Deitschland. Ich lad eich ein, einen Selbstgebrannten mit mir alten Juden zu trinken.“
Ehe das deutsche Paar diesen ungeahnten Sinneswandel des alten Trödlers richtig erfaßt hatte, griff dieser nach drei derben Schnapsgläsern, eigentlich Verkaufsware, wischte sie flüchtig aus und füllte sie randvoll. Die Frau und der Mann beobachteten die  flinken Handgriffe des Alten beim Einschenken, und plötzlich sahen sie die fünfstellige Zahlenfolge, die auf dem linken Unterarm des alten Mannes eintätowiert war. Noch ganz benommen davon hoben sie die Gläser, nickten dem alten Juden wortlos zu und alle drei kippten den scharfen Schnaps mit einem Schluck.

Ohne etwas zu sagen, ging das Paar vor dem Verkaufstisch in die Hocke, um die wundervolle Art-déco-Tänzerin ganz nah  betrachten zu können. Die Bronze war in einem guten Zustand, kaum ein Kratzer, nur der kleine Busen und der Po der nackten Figur schimmerten blank im  Metallgelb der Bronze.
„Traumhaft schön!“, und nach einem Moment ehrfurchtvollen Schweigens vor dem Objekt ihrer Begierde fragte die Frau, die im richtigen Moment schnell entschlossen handeln konnte: „Was soll sie kosten?“ „Ein Riesen!“ „Was bitte?“ „Junge Frau, hast du nicht verstanden, tausend Deitschmark – also jetzt 500 Euro von eirem neuen Geld!“

Der Mann zog seine Frau zur Seite. Leise, aber erregt, redete er auf sie ein, und nach einem kurzen Zwiegespräch meinte er lakonisch:
„Wir bieten Ihnen 300 Euro, es ist keine Expertise dabei und die Figur ist nicht signiert!“
Zornesröte stieg dem Alten ins Gesicht:
“So wahr ich ein alter galizischer Jud bin, aber so eine Frechheit ist mir lange nicht von einem Deitschen angetan worden!“
Sagte es, reckte seine eingefallene Altmännerbrust und strich seine abgewetzte Satinweste glatt. Der Alte schenkte sich vor Zorn noch einen Schnaps ein, trank hastig, fummelte an seiner weinroten Fliege, fuhr sich über sein bartloses Kinn und sagte dann  mit ruhiger Stimme, sichtlich um Hochdeutsch bemüht:
„Hört ihr beiden Deitschen, 400 Euro-Eierchen, bar auf die Hand und ohne Papierchen, mein letztes Wort, so war ich der alte Isaak Silberstein aus dem galizischen Lemberg bin! Ihr habt nicht bei mir gekauft, und ich kenn eich nicht“.
Die Frau antwortete mit einem schnellen: “Einverstanden!“
„Wer mag wohl die Tänzerin sein?“, fragte jetzt der Mann, da man sich einig geworden war, und gab sich selbst eine Antwort: „Vielleicht ist es die junge Gret Palucca oder Mary Wigman oder gar Isadora Duncan?“
Als der alte Jude den Namen Duncan gehört hatte, brummelte er etwas von einer amerikanischen Tänzerin, die 1927 an der Côte d’Azur zu Tode gekommen sei, weil sich ihr flatternder Seidenschal bei einer rasanten Fahrt im offenen Wagen in den Radspeichen verheddert hatte.
Der Kauf war dann schnell abgewickelt und der Schalk blitzte aus den Augen des Alten über das gute Sümmchen, das er erzielt hatte.

Als das deutsche Paar wieder auf der Straße stand, fragte die Frau: „Was hat der alte Jude uns nachgerufen?“ „Es klang wie Shalom – Friede mit euch!“
„Irgendwas war heute anders mit dem Trödler als gestern.“
„Ja gewiß, der alte Mann war heute rasiert und er trug eine Fliege zur Satinweste!“
„Aber warum dieser Herausputz?“
“Weil er uns gestern als Kunden gar nicht verprellen wollte. Der Rausschmiß war mehr  eine spontane Reaktion, so aus dem Bauch heraus, als er nach langer Zeit wieder  deutsche Worte hörte. Er hat schließlich genug mit Deutschen zu tun gehabt. Übrigens ist  er ein guter Menschenkenner und ein gewiefter Geschäftsmann. Er wußte, daß wir wiederkommen würden.“
Lächelnd fügte der Mann noch hinzu: „Und du hast ihm gefallen.“

Auf dem tristen Weg zurück in ihr Hotel sprachen die beiden kaum ein Wort miteinander. Es wollte keine rechte Freude über die eben erworbene Bronze-Tänzerin aufkommen, die der Trödler für sie noch in schlichtes Zeitungspapier gepackt hatte. Das Erlebte hielt sie gefangen. Sie sahen noch immer in Gedanken die Häftlingsnummer auf dem dünnen Arm des alten Juden - für alle Zeit  ‚preußisch korrekt’ eintätowiert.

Der von der offenen See in die Stadt hinein peitschende Schneeregen ließ das deutsche Ehepaar schneller gehen. Sie sehnten sich nach der wohligen Wärme ihres kleinen Hotels, weit weg von den Schatten der Vergangenheit.


© Jürgen Koller - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007