Von Marco Polo bis Rosie Ruiz

Pierre Bayard – „Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist“

von Robert Sernatini

Sigmund Freuds Bild
des „inneren Auslands“
oder:
Der Fall Romand und die
Ausweglosigkeit einer Lebenslüge
 
Daß Pierre Bayard ein Meister der eleganten Konversation um Dinge ist, die vorgeben zu sein, was sie nicht sind, ist seit „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“ hinlänglich bekannt. Sein jüngstes Werk beschäftigt sich mit einem Phänomen, das die Literatur, die Reiseliteratur, den Journalismus und die Kriminalgeschichte so intensiv durchzieht, als wäre es deren fester Bestandteil, mit dem Umstand nämlich, daß Autoren und andere Menschen ihren Rezipienten gegenüber oft und notorisch behaupten, an Orten gewesen zu sein, an denen sie nach kritischer Prüfung augenscheinlich nicht waren, nicht gewesen sein können. In anderen Fällen lassen diese Autoren, nehmen wir Jules Verne als Beispiel, natürlich erkennen, daß es sich um Fiktion handelt, an anderer Stelle wird Fiktion mit Realität vermischt, wie es Edouard Glissant mit seinem Bericht über die Osterinsel tut und dazu steht – oder François-René, Vicomte de Chateaubriand, der Anfang des 19. Jahrhunderts in seinen Berichten aus dem Nahen Osten und Amerika zur schmächtigen Wahrheit ein enormes Lügengebäude hinzuerfindet. Er bekennt es allerdings 1844 freimütig: „Ich habe Erfundenes mit wirklichen Begebenheiten vermischt, und unglücklicherweise nehmen die Fiktionen mit der Zeit den Charakter des Wirklichen an, der sie verwandelt.“
 
Mit den heute längst als Lüge entlarvten Reiseberichten Marco Polos beginnt das durchaus unterhaltsam zu lesende, doch gleichzeitig philosophisch weite Felder bestellende Projekt der Entlarvung, Entschlüsselung, Erklärung der professionellen Lüge, verbunden mit dem Versuch, auch Verzeihung zu ermöglichen - und einer heimlichen Faszination für die blühende Phantasie, ohne die jenes Phänomen nicht möglich wäre. Daß das nicht immer gehen kann, zeigt der Fall des Jean-Claude Romand, eines von Geltungssucht getriebenen psychogenen Hochstaplers, der seiner Umwelt/Familie 18 Jahre lang glaubhaft machte, ein hochbezahlter Arzt in Diensten der WHO zu sein und viele Reisen zu machen. Kenntnis der Länder und Orte verschaffte er sich durch die Lektüre von Reiseführern. Sein Leben bestritt er z.T. durch angebliche, jedoch betrügerische Geldanlagen für seine Verwandtschaft. Als sein Lügengebäude einzustürzen drohte, brachte er seine Frau, seine Kinder und seine Eltern um. Wohl einer der grausamsten Fälle des „inneren Auslands“.
 
Da sind die kuriosen Landesbeschreibungen Marco Polos, die „ethnologischen Studien“ Margaret Meads aus/über Samoa, die erfundenen Reportagen des Journalisten Jason Blair und der getürkte Marathon-Sieg der Rosie Ruiz beim Boston Marathon 1980 weit entspannender zu lesen, wenngleich auch nicht weniger aufschlußreich. Selbstverständlich kommt auch ein französischer Autor dabei nicht um einen Deutschen, den Lügenbaron der Literatur schlechthin, herum: Karl May. Niemand außer ihm hat den Wilden Westen, den Balkan, den Nahen und Fernen Osten, Afrika und Südamerika – mal abgesehen von europäischen Destinationen – so farbenreich und meist unter der Behauptung eigener Reiseerfahrungen beschrieben wie er. Daß ihn seine blühende Phantasie auch im wirklichen Leben gelegentlich in Konflikt mit dem Gesetz und hinter Gitter brachte, sei am Rande erwähnt. Doch ähnlich wie Marco Polos abstruse Abenteuer – Pierre Bayard vermutet, er sein nie über Kleinasien hinaus gekommen – bleiben auch Karl Mays „Reiseerzählungen“ Lesefutter erster Güte. Denen wollen wir verzeihen. Pierre Bayard behauptet übrigens auf S. 60, selbst einmal auf der Osterinsel gewesen zu sein. Ein kleiner, eingeschobener Insider-Scherz? Wir melden Zweifel an.
 
Pierre Bayard – „Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist“
© 2013 Kunstmann Verlag, 215 Seiten, gebunden m. Schutzumschlag, Glossar
14,99 €
 
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