Seniorenheim

von Karl Otto Mühl

Seniorenheim
 
Am Nachmittag besuchen wir den vierundachtzigjährigen Heinz im Altersheim. Es ist ein weiträumiges Haus, gepflegt, von nüchternem, weiß gestrichenen, Luxus geprägt. Da ist doch alles, was sich alte Leute wünschen, Fürsorge, ausreichend große Einzelzimmer, praktische eingerichtete Bäder, Menü-Auswahl, bei Bedarf Essen aufs Zimmer, Beschäftigungstherapie – aber Stille, erstickende Stille.
 
Das ist es. Heinz sitzt während des ganzen Tages allein in seinem Zimmer. Freundschaften werden in Altersheimen selten geschlossen, ich weiß auch nicht genau, warum. Natürlich gibt es viele Verstummte, Gehbehinderte, Demente. Was soll er mit denen reden? Das sei einer der Gründe für die Isolation.
Er sei todunglücklich, sagt Heinz.
Wir sehen eine Frau mit versteinertem Gesicht durch das Café irren, bis eine Pflegerin sie an der Hand nimmt und in ihr Zimmer führt. Aus einem der Zimmer dringen stereotyp klingende Hilfeschreie.
 
Ich überlege, ob ich Heinz raten soll, ein Tagebuch zu führen.
Aber ich weiß, daß da ein echtes Problem ist. Es wird auch nicht dadurch gelöst, daß hier die alten Leute so leben, wie einige Milliarden Anderer sich das Paradies vorstellen.
Doch ich denke, daß die Leute im Altersheim in einem unsichtbaren Gefängnis leben, das man fürchten muß. Das Leben rauscht nur in der Ferne, vielleicht nur noch in der Vorstellung. Es hilft nichts, daß man Therapien und Gymnastik anbietet oder Volkslieder singt. Die meisten alten Menschen können nicht mehr aktiv sein, für andere wieder sind diese Angebote zu anspruchslos, und eines ersetzen sie nie: das Miteinander und Gegeneinander der Gesellschaft, mehr noch, auch nicht den Lebensstrom. Die gut gemeinten und sicher notwendigen Angebote erfüllen nicht diese eine Sehnsucht der Alten: Inmitten zu sein. Früher waren sie inmitten der Familie. Der Preis, der für dieses enge Miteinander bezahlt wurde, war Abhängigkeit, Unfreiheit und Unterdrückung.
 
Nun kann niemand die vielen Altersheime, die meistens am Stadtrand liegen, ins Zentrum versetzen. Ich kenne einige zentral gelegene, und weiß, daß meine Bekannten, soweit sie gehfähig sind, kleine Spazier- oder Shopping-Ausflüge unternehmen. Das ist sicher nicht schlecht für sie und hilft, den Tag zu gestalten.
 
Am wirkungsvollsten aber wäre es, wenn jedes Altersheim einen überdimensionierten, zentralen Raum hätte, der von vielen Seiten zugänglich wäre, auch von der Straße her.
Und von da sollten sie hereindrängen, die Therapiehunde, die Enkel, die Schulkinder, die alten Freunde, mit denen man sich in einen Erker zum Plaudern setzt, die social clowns, die Atemlehrer. Und warum sollten Gruppen und Institutionen hier nicht auch Sitzungen und Versammlungen veranstalten, die Caritas, der Allgemeine Turnverein, die altgewordene Abiturientenklasse? Mitmachen können die meisten alten Leute vielleicht nicht mehr, aber zusehen und miterleben, das wollen sie. Sie möchten angesprochen werden. Dann flösse hier das wahre Lebenselixier, von dem sie trinken könnten.
 
„Ein Ziel, aufs Innigste zu wünschen.“