Vom Singen und von italienischer Gesangstechnik (5)

Spelios Constantine zum Gedenken

von Ludwig Steinbach

Vom Singen und von
italienischer Gesangstechnik (4)
 
Spelios Constantine zum Gedenken


Heutzutage sind es insbesondere zwei Sängerinnen, denen der Fachwechsel vom Mezzo zum Sopran gar nicht gut bekommen ist: Nadja Michael, die früher z. B. eine tolle Eboli war, irritiert heute in Sopranhöhen durch eine unstete und oft stark tremolierende Tongebung. Noch schlimmer ist es um Cecilia Bartoli bestellt, bei der stimmliche Mängel ebenfalls eklatant geworden sind. Mochte sie die Schadhaftigkeit ihrer Stimme im Mezzo-Fach - ihre erste CD war nicht schlecht, da sang sie ordentlich im Körper - noch einigermaßen kaschieren können, ist ihr das bei Sopran-Rollen nicht mehr möglich. Ganz abgesehen davon, daß sie in der oft flackernden und vibrierenden halsigen Höhe ähnlich wie Elisabeth Schwarzkopf sehr manieriert und stark überkünstelt wirkt, scheint bei ihr das klangerzeugende Aneinanderlegen der Stimmlippen nicht perfekt zu funktionieren. Das hat Überluft zur Folge, die ihre alles andere als angenehme Tongebung vor allem im oberen Stimmbereich zur Folge hat. An den genannten Fällen mag man ersehen, welche katastrophalen Folgen eine ständige Überforderung der Stimme haben kann.
 
Auf der anderen Seite will sie aber auch gefordert werden, um sich kontinuierlich weiterentwickeln zu können. Ihre Unterforderung kann letztlich genauso negative Folgen haben wie eine Überbeanspruchung. Wenn ein Sänger bemerkt, daß seine Stimme deutlich in eine bestimmte Richtung tendiert, sollte er auch allmählich in dieses Fach gehen.
 
Ganz richtig hat es ein Tenor gemacht, der an einem renommierten mittleren Theater jahrelang Charakterpartien wie Mime, Loge, Hexe und Herodes gesungen hat, nun aber mit Siegmund und Bacchus den durchaus vorherzusehenden Weg ins Heldenfach eingeschlagen hat. Ein Sänger muß auf die Impulse hören, die ihm seine Stimme gibt, sonst kann es ihm eines Tages schlecht bekommen. So sollte eine junge Sopranistin, die in ihrer Anfangszeit teilweise noch Soubrettenrollen gesungen hat, mit zunehmender Reifung ihres Stimmorgans nicht zu spät ins lyrische Fach wechseln, sonst läuft sie Gefahr, sich irgendwann einmal nicht mehr weiter zu entwickeln. Aus einer Susanna muß irgendwann eine Contessa werden, aus einem Ännchen eine Agathe - erst recht, wenn die Stimme immer mehr an Klangfülle und Tiefgründigkeit gewinnt. Dabei mag auch das Alter eine nicht unerhebliche Rolle spielen.
 
Mir ist eine Sängerin bekannt, die an einem hervorragenden Staatstheater in der letzen Spielzeit mit Ende Dreißig noch die Despina sang, obwohl sie sich längst für die Fiordiligi qualifiziert hat. Vor kurzem hat die große Karan Armstrong in einem Interview gefragt, wer denn heute noch eine Despina mit Ende Dreißig sehen wolle. Sie hat nicht unrecht. In diesem Alter sollte ein Sopran bei Zugrundelegung einer normalen Entwicklung längst im lyrischen Fach angelangt sein. Und hier spielen auch besetzungstechnische Gründe mit. Eine Sopranistin, die in diesem Alter immer noch vorwiegend leichte Sopranrollen und Soubretten singt, wird es irgendwann einmal schwer haben, noch Engagements zu bekommen. Denn oft vielversprechende jüngere Sängerinnen, die häufig geradewegs von der Hochschule kommen, drängen vermehrt auf den Markt, okkupieren logischerweise dieses Anfängerinnen vorbehaltene Fach für sich und vertreiben schließlich ihre älteren Kolleginnen, die nicht zur gegebenen Zeit einen Fachwechsel vollzogen haben, der vielleicht längst überfällig war.
 
Und die Theaterleitungen werden für Soubretten- und leichtere Sopranrollen eher eine dreißigjährige als eine vierzigjährige Sängerin engagieren, weil erstere in solchen Partien einfach glaubwürdiger sind. Die älteren Sopranistinnen können dabei leicht Gefahr laufen, gekündigt zu werden und in die Arbeitslosigkeit abzurutschen. Und das wäre im Einzelfall doch jammerschade!
Man sieht: Übergroße Vorsicht kann bei der Entwicklung einer Stimme auch gefährlich sein und eine vielversprechend begonnene Karriere u. U. vorzeitig beenden. Sänger, die auf die vierzig zugehen, wären gut beraten, jegliche Art von - auch von außen kommenden - Hemmschuhen abzuwerfen und sich behutsam in ein neues Fach zu wagen.
 
Lehrer, die sich oft zu sehr um ihre Zöglinge sorgen und ihnen - vielleicht auch aufgrund eigener schlechter Erfahrungen - immer wieder Zügel anlegen, können diesen auch schaden. Selbstverständlich sollen sie ihren Schülern technische Ratschläge und Impulse mit auf den Weg geben und sie auch immer wieder kontrollieren, aber nicht deren gesamte Laufbahn beherrschen und bestimmen, welche Partien sie annehmen und welche sie lassen sollen. Zu geringe Übernahmebereitschaft eines Solisten bei der Zuteilung von Partien kann leicht einmal den Ärger eines Intendanten oder Operndirektors heraufbeschwören und womöglich zur Entfernung des Gesangssolisten aus dem Ensemble führen. Und eine solche negative Presse, die sich unter Intendanten-Kollegen leicht ausbreiten kann, wird sich womöglich auch hinderlich hinsichtlich neuer Engagements des betroffenen Sängers auswirken. Er muß sich selbst vertrauen und beurteilen lernen, welche Rollen in welchem Stadium seiner Laufbahn gut für ihn sind. Die Zeichen, die ihm seine Stimme gibt, muß er unbedingt ernst nehmen und darf sie auf gar keinen Fall ignorieren. Nur so wird er lange singen. So ist der eben erwähnte Tenor dem Weg gefolgt, den ihm sein Vokalorgan genau zur richtigen Zeit gewiesen hat; und daß er in den nächsten Jahren eine große Karriere im dramatischen Wagner-Fach machen wird, ist stark anzunehmen. Seine Entwicklung wird der von Heinz Kruse nicht unähnlich sein.
 
Was ich hier so ausführlich dargelegt habe, ist die Methode meines im Sommer 2010 leider verstorbenen und hoch geschätzten Gesangslehrers Spelios Constantine, den sogar der große Sir Georg Solti für Frankfurt haben wollte und dessen tiefer Baß mit noch achtzig Jahren mühelos und klangschön angesprungen ist. Wenn man wie er über eine derart gesunde Technik verfügt, kann der Glanz der Stimme bis ins hohe Alter erhalten bleiben. Auf diese Constantine’sche Methode, die für mich die allein selig machende ist, schwöre ich. Falls ich je in den Genuß kommen sollte, als Pädagoge zu wirken und Gesangsschüler zu unterrichten, werde ich sie nach dieser Technik unterweisen und damit Spelios Constantine, der mir ein wunderbarer großväterlicher Freund war und den ich noch heute oft stark vermisse, ein mehr als verdientes Denkmal setzen. Ihm, dem ich alles zu verdanken habe, was ich als Opernkritiker erreicht habe, sei dieser Essay in herzlichem Andenken gewidmet.
 
 
Dieser Text erschien zuerst im Opernmagazin „Der Opernfreund“
Übernahme in die Musenblätter mit freundlicher Genehmigung.