Vom Singen und von italienischer Gesangstechnik (2)

Spelios Constantine zum Gedenken

von Ludwig Steinbach

Vom Singen und von
italienischer Gesangstechnik (2)
 
Spelios Constantine zum Gedenken

Häufig beobachtet man bei solchen nicht ausreichend gut ausgebildeten  Gesangssolisten auch ein Schlagen der Luft gegen den Kehlkopf. Derartige stimmliche Unarten ziehen eine recht unelegante und oft auch tremolierende Tongebung nach sich. Als Paradebeispiel dafür kann Norman Bailey gelten, der mit seiner übermäßig vibratoreichen Tongebung für Sir Georg Soltis Mitte der 1970er Jahre für die DECCA entstandenen Aufnahmen von Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ und „Der fliegende Holländer“ eine arge Hypothek darstellt. Er wollte seine Stimme mit Gewalt größer machen als sie war. Und dieser Schuß ging gehörig nach hinten los.
 
Da war er indes nicht der Einzige. Insbesondere ursprünglich lyrische Sänger, die sich auf diese fragwürdige Weise das dramatische Fach erzwingen wollen, weil da mehr Geld zu verdienen ist, sind gnadenlos zum Scheitern verurteilt und laufen Gefahr, ihre Stimme für immer zu verlieren. Die Beispiele hierfür sind mannigfaltiger Natur. Eines sei hier erwähnt: Vor einigen Jahren ging ein neuer Stern am Opernhimmel auf. An mehreren großen Häusern löste eine junge Sopranistin beim Publikum regelrechte Begeisterungsstürme aus. Und das zu Recht. Diese Sängerin verfügte damals über eine herrliche Stimme, eine perfekte italienische Technik und ein breites Differenzierungs- und Nuancenspektrum. Die Ausdrucksstärke, Intensität und Emotionalität ihres Vortrags insbesondere bei Butterfly und Tosca waren einfach umwerfend. Nun kam diese wunderbare Sängerin eines Tage auf die Idee, die Salome singen zu müssen, eine Partie, die weit über ihren Möglichkeiten lag. Ich war bereits im Vorfeld sehr skeptisch, ob das gut gehen würde. Der Eindruck, der sich einem dann bei der Aufführung bot, war in der Tat sehr ernüchternder Natur. Sie scheiterte auf der ganzen Linie. Schon in Mittellage und Tiefe war ihr Sopran nicht füllig genug, um sich gegenüber den enormen Klangmassen zu behaupten. Gnadenlos ging sie in dem gewaltigen Orchesterapparat unter. Und in der Höhe wartete sie durchaus nicht mit derselben technischen Vollkommenheit auf, die man sonst von ihr gewohnt war. Sobald es in dramatische Höhengefilde ging, verlor die Stimme die Körperstütze, fing an stark zu tremolieren und nahm einen harten und schrillen Klang an. Die fulminanten Ausbrüche der judäischen Prinzessin waren ihre Sache ganz und gar nicht. Das hörte sich manchmal ziemlich blechern an. Mit der Salome hatte sie sich einen Bärendienst erwiesen und wäre gut beraten gewesen, die Partie sofort zurückzugeben. Stattdessen sang sie die Rolle aber munter weiter und trat auch im folgenden Jahr bei der Wiederaufnahme wieder in ihr auf. Geld stinkt bekanntlich nicht. Das war ein ausgemachter Raubbau an ihrem Sopran, der sich garantiert irgendwann rächen wird. Die Folgen dieses Stimmfrevels wird sie zweifellos in einigen Jahren zu spüren bekommen. Dann wird es aber zu spät sein. Sie wurde gewarnt, wollte aber nicht hören. Nun wird sie die Konsequenzen ihres verantwortungslosen Tuns tragen müssen.
 
Die Grundsätze des appoggiare la voce sind gleichzeitig ganz essentiell für die Ausbildung eines schönen Legatos sowie die Fähigkeit zur subtilen Linienführung. Jeder einzelne Ton muß auf dem Atem fließen und dieses Fließen erreicht man ebenfalls durch Gähnen. Gähnen, gähnen und noch mal gähnen! Das ist das Mittel, mit dessen Hilfe der Gesang sonor und tiefgründig wird. Im Einzelfall kann dabei auch das Gefühl, heftig loszuheulen eine kleine Hilfe sein. Denn beim Weinen nimmt die Stimme automatisch im Körper Platz und ist tief verankert. Um diese Fertigkeiten zu erlangen, sollte man zu Beginn der Gesangsausbildung keine Lieder und Arien in schnellen Tempi oder gar im Parlandostil singen.
 
So ist einem Baß-Schüler beispielsweise unbedingt davon abzuraten, zu früh die Bartolo-Arie „A un dottor della mia sorte“ aus Rossinis „Il Barbiere di Siviglia“ mit seinen extrem schnellen Läufen zu singen. Hier besteht die große Gefahr, daß zu viel Aufmerksamkeit auf den Text gelegt wird, dabei die Stimme in die Maske rutscht und nur noch geplappert wird. Damit der Gesangston sich frei ausschwingen kann und man ein Gefühl für den richtigen, nämlich den italienischen Stimmsitz bekommt, sollte man im Frühstadium der Gesangsausbildung unbedingt Literatur mit langsamen Tempi wählen.
 
Am besten beginnt man mit ausgewählten Kantilenen von Verdi oder Puccini, die beide bravourös für die menschliche Stimme geschrieben haben. Bevor man ihren Stil nicht so weit verinnerlicht hat, daß man auch jeden anderen Komponisten, egal welcher Ära, mit derselben Technik singt, sollte man nichts anderes üben, Wagner und Strauss sowieso nicht zu früh. Und auch von Gesangs-Literatur in französischer Sprache sollte man in einer frühen Ausbildungsphase lieber Abstand nehmen. Das Französische ist mit seinen langen offenen Vokalen der Etablierung einer soliden Körperstütze eher hinderlich. In dieser Sprache sollte man erst singen, wenn man seine Stimme gänzlich im Körper etabliert hat. Bis dahin ist die Textbehandlung zweitrangig.
 
An einer perfekten Diktion sollte ein Gesangsstudent erst arbeiten, wenn die Stimme richtig sitzt. Manchen mag es erstaunen, aber selbst Mozart ist einem Anfänger nicht unbedingt zu empfehlen. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß Gesangsschüler die mit diesem Komponisten angefangen haben, nicht sonderlich vorankamen und meistens bei ihren oft sehr dünnen, kopfigen und gar nicht im Körper fokussierten, eben typisch deutschen Stimmen blieben. Es ist eine weit verbreitete Fehlannahme, daß Mozart für Anfänger gut ist.
 
Natürlich stimmt es, daß manche seiner Lieder und Arien leicht zu singen sind. Man kann sich an ihnen aber nicht sonderlich gut weiter entwickeln. So sollte ein junger Bariton-Student sich auf gar keinen Fall zu früh am Papageno versuchen. Mit dieser Rolle kann man angesichts des häufigen Parlandocharakters nicht das Gespür für den einzig richtigen Stimmsitz im Körper bekommen. Das geht nur bei den breiten Kantilenen eines Verdi oder Puccini, bei denen es sich gemächlich auf der Gesangslinie ausatmen läßt, wodurch man das Gefühl für den ebenmäßigen Stimmfluß bekommt.
 
Aus diesem Grunde ist einer Gesangsanfängerin, die noch über keine ausreichende Körperstütze verfügt, auch dringendst abzuraten, die Königin der Nacht mit ihren gewaltigen, bis zum dreigestrichenen ‚f’ reichenden Koloraturen zu wagen. Diese mörderische Partie ist eine Repertoiresäule. Und die Spitze eines Berges ist nun einmal nicht ohne ein solides Fundament zu erklimmen. Mit dieser Rolle kann man nicht lernen, der Stimme ein vorbildliches italienisches Gepräge zu geben.
 
Es gab einmal eine junge Sängerin an einem kleinen Haus, die lange Zeit stark im Kopf sang. Mit der Königin der Nacht stand sie etwas auf Kriegsfuß. Ich erinnere mich noch an eine Vorstellung, in der ihr bei den Spitzentönen die Stimme wegbrach. Als die „Zauberflöte“ an diesem Theater abgespielt war, wurden die Leistungen der Sopranistin auf einmal merkbar besser. Sie war auf dem besten Wege, ihre Stimme in den Körper zu bekommen. Eine Grundlage war geschaffen, auf der man aufbauen konnte. Die Fortschritte sollten indes nicht lange dauern, denn ein großes Staatstheater winkte - und zwar ausgerechnet mit der Königin der Nacht, die sie auf gar keinen Fall noch einmal hätte singen dürfen. Die Premiere geriet für sie dann auch zu einem Desaster. Die Kritiken fielen durchweg negativ aus. Sie sang noch einige Vorstellungen, nur um danach irgendwann sang- und klanglos von der Bühne zu verschwinden. Heute hört und sieht man nichts mehr von ihr. Die Königin der Nacht hat sie in den stimmlichen Ruin getrieben. Hätte sie um diese einen großen Borgen gemacht und stattdessen lieber eine „Rosenkavalier“-Sophie, eine Contessa Almaviva, eine Gilda oder eine Musetta gesungen, wie man ihr geraten hatte, wäre ihr dieses Schicksal wohl erspart geblieben. Dann hätte sie ihren Sopran möglicherweise noch besser in den Körper bekommen und sich sicher weiter entwickelt. So hat sie sich aber ihre Stimme kaputt gemacht.

Daraus ergibt sich: Man sollte bestimmte Mozart-Partien erst singen, wenn man sich eine gute Körperstütze angeeignet hat. Sitzt die Stimme erst einmal im Körper, mag Mozart in der Tat einfacher zu singen sein als andere Komponisten.


Dieser Text erschien zuerst im Opernmagazin „Der Opernfreund“
Übernahme in die Musenblätter mit freundlicher Genehmigung.
Lesen Sie am kommenden Dienstag an dieser Stelle weiter!