Ungewöhnliche Dinge

von Hanns Dieter Hüsch

Hanns Dieter Hüsch - Foto © Paul Maaßen
Ungewöhnliche Dinge
 
In Kürze werden sich ganz ungewöhnliche Dinge ereignen, im Singular und im Plural. Die, die das absolute Gehör haben, werden vielleicht etwas eher davon erfahren als wir anderen Sterblichen. Aber wir alle werden das Ungewöhnliche noch erleben: Wir werden das, was wir haben, nicht mehr haben, sondern das haben, was wir immer schon eigentlich haben sollten. Nicht, daß wir schon auf dem Mond Fußball spielen können oder auf dem Mars Folklore-Lieder singen. Das kommt erst später. Nein, ganz andere Dinge werden eintreten: Die Menschen - Sie gestatten - werden sich ändern. Der Himmel wird sich lichten und es wird ein Schimmer paradiesischen Glücks allenthalben zu sehn sein. Schon morgen werden Sie feststellen, wenn Sie aufstehn, daß alles ganz anders ist: Es wird keine Unruhe mehr geben, kein Wettlauf mit den Nachbarn, mit den Berufskollegen, es wird nicht mehr ums Prestige gehn, man braucht seine Meinung nicht mehr zu verstecken, man kann freundlich und friedlich über alles, dieses und jenes sprechen. Kein Kampf mehr bis aufs Messer. Alles ist selbstverständlich. Denn da wird plötzlich ein einziger Dialog sein, den alle mit allen führen und unsere kalte, unpersönliche Welt wird sich erwärmen.
 
Fremde gebären nicht mehr Fremde und alle Türen werden Nicht nur weit aufstehn, man wird sie einfach aus den Angeln nehmen, weil sich niemand mehr verschließen, abschließen will, weil man erkannt hat, daß Neger auch Menschen sind, bis ins kleinste Dorf. Jeder erkennt das plötzlich, schüttelt den Kopf, daß er bislang so blind war, daß er jetzt nicht mehr um sich zu schlagen braucht in blinder Wut. Nichts mehr ist angestaut. Die Vorfahren sind tot. Keiner plappert mehr nach, was an Biertischen vorgestammelt wurde. Keiner sieht sich mehr in der Rolle des Allzugerechten und schlägt auf wehrlose Menschen ein, die er gar nicht kennt, von denen er nur gehört hat, sondern man läßt alle in ruhiger Freundlichkeit gewähren, in Freiheit von leichter Hand, in Frieden von menschlicher Einsicht.
 
Es werden auch die Soldaten langsam nicht mehr durch die Stadt marschieren, sie werden langsam nach Hause gehn und Apfelbäume - wenn ich ein Dichter wäre, müßtens Apfelbäume sein - und Apfelbäume pflanzen. In Peking werden die Soldaten mit ihren Bajonetten kleine Holzvögelchen schnitzen Und überall werden die Soldaten voller Freude wieder ein richtiges Handwerk erlernen und mit den Kindern sonntags auf den Hügeln sitzen und Pflanzen beschreiben. Die großen Raketen werden zwar zunächst noch in den Museen zu sehn sein, aber dann wird man bald darüber lachen, und der große amerikanische Präsident wird am lautesten darüber lachen.
 
Die ganze Welt wird lachen. Und wie das so ist, zuerst werden alle Menschen etwas verlegen grinsen, dann werden sie lächeln, dann lachen Und schließlich so losprusten, daß die, die noch vor kurzem sehr geweint hatten, schon ein bißchen mitlächeln. Man wird sich auf die Schulter schlagen und sagen: Mensch, - denn ein anderes Wort wird ihnen zunächst nicht einfallen - Mensch! werden sie alle sagen, und denken werden sie alle, wie konnten wir nur solange so dumm sein, wo wir doch immer dachten, wir wären so klug. Und es wird tatsächlich ein Schimmer paradiesischen Glücks allenthalben zu sehn sein. In dieser Zeit, die ganz kurz vor uns liegt. Und wenn wir dann sehen, wie die Marxisten nicht mehr Marxisten und die Kapitalisten nicht mehr Kapitalisten  Und die Faschisten nicht mehr Faschisten und die Kommunisten nicht mehr Kommunisten und die Nationalisten nicht mehr Nationalisten und die Rassisten nicht mehr Rassisten und die Stalinisten nicht mehr Stalinisten sein wollen, - dann werden wir sehn, wie eine zufriedene Menschheit durch Täler und Schluchten, über Gebirge und auf wilden Flüssen sich auf den Weg macht, um sich Gutentag zu sagen und zu fragen: Wie geht es Ihnen? Und wen wunderts dann, wenn dann Chinesen in Bonner Cafés sitzen und Deutsche auf dem roten Platz in Moskau Luftballons steigen lassen, wen wunderts dann, wenn Orthodoxe mit Atheisten sich übers Wetter unterhalten und Farbige in europäischen Krankenhäusern operieren und Juden und Kleinbürger, Hindus und Christen an einem schönen runden Tisch im Freien sitzen und sich alte Witze erzählen. Wen wunderts dann?
 
Und dann kommen auch noch die Amerikaner und singen eins ihrer vielen lustigen Lieder. Und der Refrain eines Liedes könnte vielleicht heißen: Wenn wir ehrlich sind, alter Bursche, müssen wir doch zugeben, daß wir alle gleich sind, das bißchen Fleisch und Knochen, das ist doch nichts Besonderes, darum laß uns daran denken, alter Bursche, daß von uns das Gleiche übrigbleibt. - Und so wird es durch die ganze Welt gehen: Keiner fragt mehr nach Konfession oder Hautfarbe, nach Weltanschauung und Parteibuch, nach Bankkonto und gesellschaftlicher Position. Aller ideologischer Ballast wird über Bord geworfen. Hochmut und Intoleranz kommen tatsächlich vor dem Fall. Besserwisser und Sklavenhalter und die Fiedler auf den Straßen. Der Mensch kommt zur Ruhe. Die Zukunft leuchtet! -Tja -.  Aber da sehe ich etwas, was ich noch nicht genau erkennen kann. Irgendwo, vielleicht hier ganz in der Nähe, wird ein Mann auf seinen Nebenmann losgehn. Er wird seinem Nebenmann ein wunderbares Stilett quer durch den Hals stoßen. Er wird dabei sagen: Du radikal kommunistischer Kapital-Christ! Oder sowas ähnliches wird er jedenfalls sagen. Er zieht schon sein Stilett aus dem Hals seines sterbenden Nebenmannes und geht durch die gelähmte Menschenmenge. Er sucht sich schon sein nächstes Opfer.
 
Mehr kann ich im Moment nicht erkennen.
 
1967



© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Den möcht´ ich seh´n..." in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung
Das Foto stellte freundlicherweise Paul Maaßen zur Verfügung.