Ich bin noch immer jung ...

von Karl Otto Mühl

Foto © Lothar Dröse

... da fließt ein Brünnlein kalt.

Am Nachmittag zuhause trete ich einmal auf die Terrasse. Oma sitzt dort, ganz eingepackt in Bademantel, Schal und Zipfelmütze. Nur das kleine Gesicht ist zu sehen.
 
Über uns spannt sich ein wunderbarer Herbsthimmel, zartblau mit hellgrauen Wolken. Nach den Therapiebüchern über Imaginations-Therapie, die mir in letzter Zeit begegnet sind, wäre das die perfekte Vorstellung von Gesundheit. Man muß sich diesen Himmel vorstellen und wird gesünder.
 
Ich setze mich zu Oma auf die Bank. Vor uns im Garten steht der hilfsbereite Marek auf der Leiter und fuhrwerkt in unserem Kirschbaum herum. Die Äste werden geschnitten.
„Schau dir diesen Himmel an, Elisabeth“, sage ich zu Oma. „Dabei werden selbst Kranke gesund.“
 
Oma beginnt zu singen, und ich falle ein:
 
Und in den Schneegebirgen,
da fließt ein Brünnlein kalt.
Und wer das Brünnlein trinket,
und, wer das Brünnlein trinket,
wird jung und nimmer alt.
 
Ich hab daraus getrunken
So manchen frischen Trunk.
Ich bin gesund geworden,
ich bin gesund geworden,
ich bin noch immer jung.
 
Oma beherrscht den Text. Ich kannte die zweite Strophe nicht.
Ich packe meine Sachen zusammen. Der Nachmittag kann beginnen. Wenn man immer nur an den gegenwärtigen Augenblick denken  würde, wäre alles in Ordnung.


© 2012 Karl Otto Mühl