Schlaf des Guten (2)

Eine Erzählung

von Wolf Christian von Wedel Parlow

Schlaf des Guten (2)
 
Ganz recht, Mann mißtraute ihr in dem Punkt. Er fragt ganz offen: Oder haben Sie vielleicht doch noch etwas hinzugefügt, nach dem Kriegsende? Es bliebe ja unter uns, Verehrungswürdige. Ich hoffe, Sie verzeihen mir diese kleine Indiskretion. Aber das ist Geplänkel. Viel wichtiger ist Manns Erwiderung auf die Lobpreisung Ansedio-Hitlers. Tatsächlich, es gibt diese Lobpreisung in le Forts kleiner Novelle. Etwas Unerhörtes! Ich lese Ihnen einige Sätze daraus vor. Es sind die Worte des Vorstehers. Aber ich will Sie nicht langweilen.“
„Das tun Sie wirklich nicht. Das Thema interessiert mich, wie Sie schon bemerkt haben dürften.“ Sie lächelte zum ersten Mal.
„Den stillen Vorwurf stecke ich ein“, sagte ich lachend. „Natürlich blieb mir Ihr Wissensdurst nicht ganz verborgen. Aber ich habe schon erlebt, daß Fragen nur aus Höflichkeit gestellt werden, nach einem Vortrag zum Beispiel, wenn alles schweigt und sich schließlich einer erbarmt und mit einer Frage zu Wort meldet, aus Mitleid mit dem Vortragenden.“
„Da sind Sie bei mir an die Falsche geraten. Welchen Grund sollte ich haben, Ihnen etwas vorzumachen? Nun sollten Sie mir wirklich die Worte des Vorstehers vorlesen!“ Wieder ihr Lächeln, diesmal vielleicht, um die Frechheit auszugleichen, daß sie mich herumschubste wie einen kleinen Jungen.
„Gern. Ich zitiere – in Auszügen: Gott hat viele deiner Untaten in Segen verwandelt … Du hast, ohne es zu wollen, viele Herzen geläutert. Unzählige haben an deiner Ungerechtigkeit erst die Gerechtigkeit lieben gelernt … Niemals wurde Wahrheit so geliebt, als du sie mit Füßen tratest. Du warst der gewaltigste Bußprediger, den diese Stadt jemals vernommen hat – glaube nicht, daß jedermann sich, wie die dumpfe Masse draußen, durch den Aberglauben deiner Unbezwingbarkeit entschuldigt fand! Alle edlen Seelen haben längst an ihre eigene Brust geschlagen: auch die Stolzesten von ihnen sind an dir demütig geworden, auch die Stärksten haben eingesehen, daß sie vor dir versagten …“
„Hört sich ein wenig an wie Goethes Mephisto, der sich Faust bekannt macht als ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“
„Ihnen entgeht aber auch nichts. Genau darauf stellt auch Mann ab. Er schreibt: Darin liegt ja vielleicht gerade die Existenznotwendigkeit des Bösen, daß es Gegenkräfte ins Leben ruft, die unter einem gerechten Regime gar nicht sichtbar geworden wären. Als ob es das Böse brauchte, um das Gute hervorzubringen. An der Ungerechtigkeit die Gerechtigkeit lieben lernen, ein gewaltiger Satz. Es kommt dabei gar nicht so sehr darauf an, ob das Erlernte zur Tat führt. Es hat ja in Deutschland wirklich erst sehr spät und unzureichend zur Tat geführt. Nein, es kommt viel mehr darauf an, ob sich das Bewußtsein ändert, ob man nun wirklich einen gerechten Staat will. Und in der Hinsicht muß man in Deutschland wohl noch darauf warten, daß die Frucht jenes Unrechtsstaates, jenes Lernen an der Ungerechtigkeit, aufgeht.“
„Der alte Skeptiker, er traute uns eigentlich nicht zu, aus eigener Kraft einen gerechten Staat aufzubauen. Und wer weiß, ohne die Alliierten wären wir vielleicht wirklich nicht so weit gekommen auf diesem Weg.“
Ich hätte darauf eingehen können, ließ es aber dabei bewenden, denn das Thema hätte uns weit weg von dem Mannschen Diskurs geführt. Ich wollte die schwindende Zeit nutzen − denn bald würde die Sitznachbarin aussteigen −, um noch auf einen weiteren Punkt in Manns Brief hinzuweisen.
Es war ein schwieriger Punkt. Ich zögerte, während ich hinaussah auf den verödeten Bahnsteig, an dem unser Zug nun schon einige Zeit stand. Hamm Hbf. Man kannte es nicht anders. Der ICE nach Berlin hatte sich verspätet, wie aus den Lautsprecheransagen hervorging. Nachrangige Züge wie unser Intercity mußten selbstverständlich warten, um ihn vorzulassen.
Die Sitznachbarin kam mir zuvor. „Manns Brief an le Fort würde ich gern mal als Ganzes lesen. Ich finde ihn bestimmt in einer seiner Briefeditionen.“
„Darauf komme ich gleich.“
Ich war auf diese Frage vorbereitet. Auch in Minden würde ich ja damit konfrontiert.
„Aber lassen Sie mich vorher noch auf einen weiteren Punkt in Manns Brief eingehen.“
Jetzt war ich es, der sich ihr aufdrängte – ganz nach professoraler Art um Vollständigkeit bemüht.
„Mann wurde immer hellwach, wenn vom Bösen schlechthin die Rede war. Deswegen fiel ihm auch gleich die Goethesche Denkfigur auf, die sich hinter der Würdigung Ansedio-Hitlers als Bußprediger verbirgt …“
„Das lag eigentlich auf der Hand, unterbrach sie mich, jedenfalls für Leute, die den Faust gelesen haben. Ein besonderes Interesse für das Böse schlechthin, wie es Mann vielleicht hatte, brauchte man bestimmt nicht, um darauf zu kommen.“
„Stimmt, Sie waren ja auch gleich darauf gestoßen. Wie konnte ich das nur vergessen!“
Mir war so, als spürte ich eine gewisse Ungeduld bei ihr, vielleicht wegen meiner manchmal etwas umständlichen Ausdrucksweise. Langweilte ich sie etwa? Vielleicht sollte ich mich etwas knapper ausdrücken und weniger gewählt. Denn inzwischen wurde der Wunsch immer stärker in mir, die Sitznachbarin nicht aussteigen zu lassen, ohne daß wir vorher unsere Adressen ausgetauscht hätten. Aber als Langweiler hätte ich keine Chancen.
„Mann hatte in der Novelle jedenfalls noch eine andere Stelle gefunden, die ihn zu einer Erwiderung reizte. Es ging um das Wesen des Bösen. Ich muß hier etwas ausholen. Haben Sie noch soviel Geduld?“
„Sie müssen mich wirklich nicht fragen, ob ich Ihnen noch zuhören mag. Ich verspreche Ihnen, ich werde mich melden, sobald mein Interesse erlahmt.“
Von der Frau konnte ich noch Einiges lernen. Daß ich aufhören sollte, ständig in der Angst zu leben, ich gehe meinem Gegenüber auf die Nerven. Ich entschuldigte das gerne mit meiner höflichen, bescheidenen Art. Aber eigentlich, das wußte ich schon lange, wollte ich von meinem Gegenüber nur hören, wie interessant die Sache war, von der ich gerade sprach. Ach, ich wollte noch viel mehr, ich wollte von ihm hören, wie glücklich er sei, mit mir zu sprechen, selten habe er einen so interessanten Gesprächspartner erlebt wie mich. Unersättlich war dieses Bedürfnis nach Selbstbestätigung. War das der Grund, weswegen mich die Frau interessierte?
„Und ich verspreche Ihnen, geduldig auf das Signal zu warten.“
„In Bielefeld muß ich leider aussteigen. Länger werde ich also nicht das Vergnügen haben, Ihnen zuzuhören. Aber wie war das nun mit dem Wesen des Bösen, das Mann derart reizte?“
„Ansedio hatte in le Forts Novelle einen Gegenspieler, den päpstlichen Legaten Filippo Fontana. Der hatte in seiner Jugend an einem Essay über das Thema gearbeitet, ohne ganz damit fertig zu werden. Er war damals an dem Widerspruch gescheitert, daß das Böse, ich zitiere aus der Novelle, im Reiche der Erfahrung … eine ungeheure Macht besaß, aber sofort in Nichts zerrann, wenn das Gute wirklich kraftvoll auf den Plan trat. Beruhte die Macht des Bösen also nur auf einer Ohnmacht des Guten? War das die zutreffende Auflösung des Widerspruchs? Fontana konnte sich damals nicht zu dieser klaren Aussage durchringen. Als er jetzt in das zerstörte Padua einreitet, um die Geschicke der Stadt nach der Niederwerfung Ansedios wieder in die Hände der Bürgerschaft zu legen – übrigens eine Vorwegnahme der Rolle der Alliierten nach 1945, die Mann aber nicht zum Anlaß nimmt, ein zweites Mal über die seherischen Qualitäten der Autorin zu spekulieren; sie hätte es ihm womöglich als Spott ausgelegt; dazu schätzte er sie zu sehr – als Fontana jetzt seine Vaterstadt wiedersieht, das zerstörte Padua, kommt es ihm plötzlich so vor, als sei, ich zitiere, sein Sieg über Ansedio … die Antwort auf die offen gebliebene Frage seines Traktats, uff, was für ein Bandwurm von Satz!“
„Keine Angst, ich konnte folgen. Und wie geht es weiter?“
„Mann geht das Traktat des Legaten nicht weit genug. Das Gedankengebäude des päpstlichen Legaten, schreibt er, hat mich lange beschäftigt. Die Macht des Bösen liege in der Ohnmacht des Guten. Das Böse aber sei Bußpredigt, die das Gute wieder zum Leben erweckt. Beispielhaft der Sieg Fontanas über Ansedio. Mir scheint, daß Fontana auf halbem Wege stehen bleibt, indem er offen läßt, wie aus dem Guten wieder das Böse erwächst. Ach, wie konnte ich mich nur so vertun! Das Gute als Gebärerin des Bösen, ein Ding der Unmöglichkeit. Ich sollte wohl besser das Bild vom Schlaf des Guten bemühen. Das Gute war müde geworden, nachlässig. Hat es sich gar gelangweilt? Ich frage ja nur. Sich dem Schlaf zu ergeben war da nur eine läßliche Sünde. Und wie nahe liegt doch der Schlaf der Ohnmacht. Und schon lauert in den Tiefen das Böse. So könnte ich mir den Kreislauf des Bösen vorstellen, vom Bösen zum Guten, vom Guten zum Bösen ...“
„Ein schönes Bild, aber so abstrakt. Und immer läßt Mann ein Zipfelchen seiner maliziösen Selbstdarstellung aufblitzen, so wie es früher manchmal blitzte, als Frauen noch helle Unterröcke trugen.“
Es war seltsam, aber es befriedigte mich irgendwie, daß sie den maliziösen Ton in Manns Ausführungen heraushörte.
„Ja, die Unterröcke, meine Zeit! Bei Mann war das Maliziöse wohl nur Maske ...“
„Selbstdarstellung“, korrigierte sie mich, „oder genauer noch: Rüstung, ein Warnschild mit der Aufschrift ‚Komm mir nicht zu nahe!’“
„Sie scheinen sich näher mit ihm beschäftigt zu haben.“
„Er interessierte mich. Aber ich habe Sie unterbrochen. TM hat sicher noch mehr über den Weg vom Guten zum Bösen gesagt.“
„Genau. Was Sie so abstrakt fanden, hat er näher ausgeführt, zumindest versucht hat er es. Das Bild vom Schlaf des Guten, schreibt er weiter, erklärt natürlich noch nicht wirklich, wie das Böse ans Ruder kommt. Weiter oben in Ihrer großartigen Novelle lassen Sie Ugo da Cremona, den Heerführer der gegen Ansedio angetretenen Städte Venedig und Mantua, verächtlich schnauben, als die Rede auf die Bürger von Padua kommt: ‚Die sind an ihrem Unglück selber schuld – die sind gar nicht durch den Ansedio, die sind durch ihre eigene Schwachheit unter seine Tyrannei geraten!’ Tja, ein bißchen Verführung wird schon dabei gewesen sein. Es war Eva, die Adam den Apfel reichte. Was hat Hitler nicht alles versprochen! Die Schande von Versailles zu tilgen, die Juden zu vernichten, alle Deutschen, ob sie nun in Österreich, im Sudetenland, im Elsaß lebten, im Deutschen Reich zu vereinen. Welcher Deutsche wurde da nicht schwach, schwach wie Adam, als er den Apfel nahm! Aber es gab noch eine tiefere Schicht: die Langeweile. Wie langweilig, wie glanzlos war doch die Republik! Nichts ging voran bei dem ewigen Parteiengezänk. Alles ließ man sich gefallen, ob Frankreich nun das Rheinland besetzte oder das Ruhrgebiet. Ich muß nicht noch mehr aufzählen, um die trostlose Langeweile, die uns damals niederdrückte, ins Gedächtnis zu rufen. Kein Wunder, daß Adam, des ewigen Einerleis im Garten Eden überdrüssig, den Apfel ergriff ...“
„Es hat etwas Unausweichliches, was Mann hier als Weg vom Guten zum Bösen beschreibt. Das gefällt mir nicht. Jede Gesellschaft, die wie die unsere ihre Probleme eines nach dem anderen zu lösen versucht, könnte in die Zone der Langeweile geraten ...“
„... und der Verführung.“
Wir schwiegen. Der Zug passierte Ahlen. Es wurde Zeit, daß ich ihr erklärte, wie ich auf das Mannsche Schreiben gestoßen war. Aber das war eine viel zu lange Geschichte. Viel zu kompliziert, jedenfalls die Version, die ich in Minden auftischen wollte. Wozu auch der Sitznachbarin Aufschluß über meine Verwandtschaft mit der Dichterin geben? Daß ich ihr Neffe war, wenn auch nur zweiten Grades, wen interessierte das? In Minden würde man freilich davon wissen. Und da die verwandtschaftliche Beziehung eine Rolle spielte in meiner Erzählung über die Entdeckung des Briefes, würde ich dort auch keinen Hehl daraus machen. Genauso schien es mir überflüssig, mich jetzt als Volkswirt zu erkennen zu geben. Die Sitznachbarin hatte sich bestimmt ein ganz anderes Bild von mir gemacht. Warum sollte ich sie jetzt enttäuschen? Daß ich mich in Minden ganz offen zu meiner fachlichen Inkompetenz bekennen würde – jedenfalls soweit es um die Interpretation eines Briefes von Thomas Mann ging, war etwas Anderes. Dort wußte man von meinem beruflichen Werdegang.
„Sie baten mich noch um einen Hinweis auf die Fundstelle des Mannschen Briefs. Eine komplizierte Geschichte. In den bisherigen Briefeditionen taucht er nicht auf. Kein Wunder, es ist ja ein Handschreiben, ein Unikat. Bis zu ihrem Tod hat es die Dichterin bei sich aufbewahrt. Ob sie je darauf geantwortet hat, ist mir nicht bekannt. Wohl eher nicht, sonst wäre man im Mannschen Nachlaß auf die Antwort gestoßen und hätte bestimmt nicht geruht, bis man im Nachlaß le Forts den Brief Thomas Manns gefunden hätte. Das Erstaunliche an dem Brief war ja, daß Thomas Mann die Dichterin ernst nahm, und das trotz ihres geringen Bekanntheitsgrades in säkular orientierten Leserkreisen. Das hat wohl auch die langjährige Sekretärin Gertrud von le Forts so empfunden …“
Die Sitznachbarin sah auf die Uhr.
„Ich sehe, Sie werden ungeduldig. Tut mir leid. Aber die Geschichte ist wirklich sehr kompliziert. Denn nach le Forts Tod hat die Sekretärin den Brief offenbar nicht mit der übrigen Korrespondenz an das Marbacher Literaturarchiv geschickt. Sie wollte wohl verhindern, daß ein literarhistorisch wichtiges Dokument im Archiv verschwindet, wo es vielleicht jahrzehntelang unentdeckt bliebe oder gar für immer. Falls das tatsächlich ihr Motiv war, hatte sie durchaus Recht mit dieser Befürchtung. Denn wer interessiert sich heute noch für die katholische Dichterin? Ich vermute, sie wollte den Brief einem auf Thomas Mann spezialisierten Germanisten zukommen lassen. Vielleicht hoffte sie, der werde den Brief zum Gegenstand eines Beitrags für eine Fachzeitschrift machen. Aber es kam nicht mehr dazu. Die Sekretärin erkrankte und starb bald darauf. Die Angelegenheit geriet erst einmal in Vergessenheit.“
Ich stand neben mir, während ich ihr diese Lügengeschichte erzählte. Eigentlich ein Allerweltsgefühl. Wer schon einmal ein Lügennetz ausgelegt hat, kennt das Gefühl. Diese gesteigerte Selbstkontrolle. Nur ja keinen Fehler machen. Und parallel dazu die Frage, warum tust du das? Hast du das wirklich nötig? Wärest du nicht besser zu Hause geblieben? Aber das Geltungsbedürfnis ...
„Aber irgendwie ging es dann doch weiter“, trieb sie mich vorwärts.
Neubeckum huschte vorbei, Oelde, Rheda, Namen wie aus altdeutscher Zeit.
„Nach längerer Zeit, nach meiner Rekonstruktion waren inzwischen Jahre vergangen, erhielt ich einen Anruf von einem Verwandten der Sekretärin. Der Anrufer, ein jüngerer Bruder der Sekretärin, leitete das Gespräch mit der Vermutung ein, ich hätte an meiner Hochschule bestimmt Zugang zu einem Thomas Mann-Spezialisten. Man habe in den Hinterlassenschaften der verstorbenen Schwester einen Brief Thomas Manns an Gertrud von le Fort gefunden. Der Brief wäre es wert, Gegenstand einer fachkundigen Abhandlung zu werden.“
In die Logik meines Lügengewebes hätte hier eigentlich der Hinweis gepaßt, der Anruf habe etwas in mir berührt, was ein Psychoanalytiker vielleicht als ungesättigten Ehrgeiz bezeichnen würde. Um damit zu erklären, daß mir damals sogleich der Gedanke gekommen sei, ich könnte die Abhandlung selbst verfassen. Aber ich unterdrückte den Hinweis. Warum hätte ich die Sitznachbarin erschrecken sollen? Ohne Not gibt niemand den Blick frei auf die häßlichen Seiten seines Charakters.
Überdies hätte so ein Geständnis nur den Ruf beschädigt, den ich, wie ich mir einbildete, inzwischen bei der Sitznachbarin besaß, den Ruf eines ausgewiesenen Thomas Mann-Kenners, den es selbstverständlich keine Mühe gekostet hätte, einen Essay über den Brief zu schreiben. Zumal die Erwähnung jenes angeblichen Anrufs diesen Ruf noch befestigt haben dürfte. Denn warum sollte ausgerechnet ich angerufen worden sein, wenn der Anrufer nicht meinte, in mir den gesuchten Spezialisten gefunden zu haben?
In Minden würde ich es nicht ganz so einfach haben. Denn, ich konnte nicht ausschließen, daß man dort den verwandtschaftlichen Hintergrund der Sekretärin le Forts kannte. Daß ihr Bruder nämlich eine der zahlreichen Cousinen aus meinem Familienverband zur Frau hatte.
Ich würde die Geschichte dort also ganz anders erzählen müssen: Es sei wohl kein Zufall gewesen, daß der Anrufer von meiner Hochschultätigkeit wußte. Denn sicher hatte er hin und wieder in der vom Familienverband jährlich neu herausgegebenen Adressenliste geblättert. Und sei dabei auf mich gestoßen, eines der wenigen Familienmitglieder, die im Hochschulbereich tätig waren. Anscheinend sei ihm auch die nahe Verwandtschaft meines Familienzweigs mit der Dichterin bekannt gewesen. Seine Schwester könnte ihn darauf hingewiesen haben, als er ihr irgendwann mitteilte, er gedenke jene Cousine aus meinem Familienverband zu heiraten. Denn als ich im Verlaufe des Ferngesprächs damit herausgeplatzt sei, mich interessiere alles, was Tante Gertrud beträfe, habe er keineswegs gestutzt, was er doch wohl getan hätte, wenn ihm der genealogische Hintergrund der Dichterin nicht bekannt gewesen wäre.
All das konnte ich in diesem Moment ruhig verschweigen. Es hätte die Geschichte, wie der Brief in meine Hände gelangt war, nur noch weiter kompliziert. Die Geschichte? Ich litt anscheinend schon an Selbsttäuschungen, so tief war ich inzwischen in die von mir selbst geschaffene Scheinwelt eingetaucht.
„Ich versprach dem Anrufer“, fuhr ich fort, atemlos, weil ich die Geschichte noch zu Ende bringen wollte, bevor der Zug in Bielefeld einfuhr, „ich werde mich gern erkundigen, wer für diese Aufgabe in Frage käme, und ihm, sobald ich fündig geworden sei, Name und Anschrift mitteilen. Ich fürchte allerdings, gab ich zu bedenken, die betreffenden Kollegen würden meine Anfrage nicht so ganz ernst nehmen, solange sie sich nicht selbst von der Existenz des Briefes überzeugen könnten. Es würde meine Erkundigungen deshalb sehr erleichtern, wenn ich den angesprochenen Kollegen die Gelegenheit geben könnte, selbst einen Blick auf das Dokument zu werfen. Ob er mir den Brief nicht vorübergehend überlassen könnte? Ich würde das als außerordentlichen Vertrauensbeweis erachten und meine ganze Sorgfalt auf die Erfüllung seiner Bitte verwenden, und was ich sonst noch für Floskeln zur Untermauerung meiner guten Absichten vorbrachte.“
„Die waren allerdings ganz und gar nicht gut, grinste die Sitznachbarin. Sie dachten überhaupt nicht daran, sich nach einem Kollegen zu erkundigen, der sich womöglich noch besser auskannte in dem Werk Thomas Manns als Sie selbst, geschweige denn, den Brief wieder aus der Hand zu geben, sobald er Ihnen zugestellt worden wäre. Das Telefongespräch hatte etwas in Ihnen ausgelöst, dem Sie nicht widerstehen konnten: Sie selbst würden den Brief interpretieren. Habe ich Recht?“
Sie schlug sich auf den Mund. „O, das war wirklich frech. Verzeihung!“
„Dabei war es genau so, wie Sie es schildern. Es besteht also kein Grund, sich zu entschuldigen“, sagte ich, ohne mich auch nur im Geringsten ertappt zu fühlen. Denn es war ja offenkundig, daß ich den Brief nicht weitergegeben hatte an irgendeinen sogenannten Thomas Mann-Kenner. Sonst säße ich jetzt nicht in diesem Zug, um in Minden einen Vortrag zu dem Thema zu halten. Hauptsache, sie erfuhr nicht, wie es sich tatsächlich verhielt.
„Natürlich ahnen Sie schon, wie es weiterging. Der arglose Anrufer schickte mir den Brief im Original. Die Schrift ließ sich wider Erwarten leicht entziffern, und was ich zunächst befürchtet hatte, ein höfliches Dankschreiben vor mir zu haben, bewahrheitete sich zu meinem Erstaunen nicht. Freunden gegenüber erwähnte ich meine Entdeckung. Die Gertrud von le Fort-Gesellschaft bekam Wind davon. Ich wurde zu einem Vortrag eingeladen. Alles Weitere wissen Sie.“
„Sie besitzen also den Brief. Wäre es Ihnen eventuell möglich, mir eine Kopie davon zu schicken?“ Sie kramte in ihrer Handtasche.
In wenigen Minuten erreichen wir Bielefeld Hauptbahnhof, tönte es aus dem Lautsprecher. Sie hielt mir eine Visitenkarte hin und stand auf. Ich ließ sie auf den Gang hinaustreten. Sie wirkte attraktiv, wie sie jetzt vor mir stand, in ihren Jeans, noch immer mit der Visitenkarte in der Hand.
„Ich muß Sie leider enttäuschen. Ich bin innerhalb unserer Wohnung umgezogen, mit Schreibtisch, Büchern und dem ganzen Papierkram. Irgendwie muß der Brief dabei zwischen belanglose Blätter geraten sein, möglicherweise Reklameschriften. Ich muß ihn versehentlich weggeworfen haben. Nicht wieder gutzumachen!“
Ob meine zerknirschte Miene echt genug wirkte? Ich hatte noch keine Übung in der Rolle als Fälscher einer literarhistorischen Entdeckung. Sie sah mich aus großen Augen an.
„Ich könnte Ihnen eine Kopie des Vortragsmanuskripts schicken. Das wäre das Einzige, was ich für Sie tun könnte.“
„Immerhin. Es wäre eine Erinnerung an unser Gespräch. Und die wesentlichen Passagen aus Manns Brief scheinen Sie ja zitiert zu haben. Ich würde mich sehr über eine Kopie Ihres Vortrags freuen.“
Endlich nahm ich die Karte. Diplom-Psychologin las ich, Projekt-Mitarbeiterin.
„Ein hartes Brot, so von Projekt zu Projekt.“
„Man gewöhnt sich daran.“ Sie hielt mir ihre Hand hin.
„Es hat mich gefreut.“ Sie nahm ihre Tasche und verschwand Richtung Ausstieg.
Ich setzte mich und fühlte mich plötzlich sehr müde, nachdem die Anspannung von mir gefallen war. Obwohl ich es gewohnt war, in Scheinwelten zu leben, verlangte es von mir doch immer wieder höchste Konzentration, so ein Lügennetz auszubreiten. Daß der Brief eine reine Erfindung war, diese Tatsache unter Verschluß zu halten war mir gelungen. Das war die Hauptsache. Insofern war das Gespräch wohl doch eine gute Vorbereitung auf den morgigen Vortrag.
Während ich so vor mich hin dämmerte, fiel mir ein, was Nora in einem unserer vielen Gespräche über das Thema gesagt hatte. Das alles nur, hatte sie mir vorgehalten, diese ganze Anstrengung, weil ich mich dem Bedürfnis, größer zu erscheinen, als ich war, widerstandslos ergeben habe. Aber war das nicht zu verstehen? Es tat so ungeheuer wohl, mit einer Dichterin verwandt zu sein, mit der sogar Thomas Mann korrespondiert hatte. Dafür eine Lüge in die Welt zu setzen, war nun wirklich kein hoher Preis.
Jetzt nur nicht einschlafen. Ich steckte das Manuskript in die Tasche und zog das Faltblatt mit dem Lageplan der Mindener Hotels heraus. Hotel Silke am Fischerglacis hatte die Gesellschaft empfohlen, das Einzelzimmer für 67 Euro. Erträglich, fand ich, und vom Bahnhof fußläufig erreichbar über die Weserbrücke, dann rechts ein Stück weit den Grimpenwall entlang. Von dort zum Tagungsort am Papenmarkt war es nicht weit. Irgendwie würde ich es schon hinkriegen.
 

Den ersten Teil dieser Erzählung konnten Sie → hier am vergangenen Sonntag lesen.

© 2013 Wolf Christian von Wedel Parlow - Erstveröffentlichung in den Musenblättern
Redaktion: Frank Becker