Miserabel: "Les Miserables"

Die Hollywood-Verfilmung des Musicals ist keinen "Oscar" wert

von Renate Wagner
Les Miserables
(USA, 2012)

Regie: Tom Hooper
Mit: Hugh Jackman, Russell Crowe, Anne Hathaway, Amanda Seyfried, Helena Bonham Carter, Sacha Baron Cohen u.a.
 
Liest man, daß „Les Miserables“ abermals verfilmt wurde, kann der erste Gedanke jedes halbwegs informierten Literatur- und Filmfreundes nur lauten: Schon wieder? Wie oft noch? Der arme Jean Valjean des Victor Hugo, der im Frankreich des 19. Jahrhunderts von seinem unerbittlichen Gegner Javert gejagt wird, ist wahrlich schon oft genug auf der Leinwand erschienen, da braucht man gar nicht die Uralt-Fassungen von 1935 (Fredric March & Charles Laughton) und 1958 (Jean Gabin & Bernard Blier) zu bemühen.
 
Auch in nicht so weit zurück liegenden Zeiten hat uns das wunderbare Kitsch-Schicksal oft genug das Herz abgedrückt – 1982 waren Lino Ventura & Michel Bouquet das unwiderstehliche Gut / Böse-Duo in der Regie von Robert Hossein, 1995 dachte sich Claude Lelouch eine in den Zweiten Weltkrieg zeitversetzte Version mit Jean-Paul Belmondo aus, 1998 standen sich bei Bille August Liam Neeson & Geoffrey Rush gegenüber. Und 2000 gab es dann die französische Endlos-TV-Serie mit Gerard Depardieu & John Malkovich (Depardieu damals noch Franzose und für alle heiligen Güter der Nation zuständig, heute bekanntlich Emigrant des schnöden Mammons willen…)
 
Aber gut: Wenn man sieht, daß es diesmal Russell Crowe und Hugh Jackman sein sollten, die in der neuen Kinofassung die berühmten Rollen spielen – wer hätte schon etwas gegen diese beiden, die zu den eindrucksvollsten Schauspielern unter den heute Vierzig-plus-jährigen zählen. Nur dreht sich in der Realität dieses Films die Selbstverständlichkeit um, daß man Crowe, den doch eher geraden Typ, instinktiv als Valjean besetzt hätte und Jackman, den undurchsichtigen, als Javert: Jeder spielt eigentlich die Rolle des anderen, und so gerne sich Schauspieler „gegen den Strich“ besetzt mögen, instinktiv stimmt es eigentlich nicht. Russell Crowe muß mit Verbissenheitsmiene böse und verkrampft sein, was ihm nicht wirklich liegt, und bei Hugh Jackman, der als der doch fraglose Sympathieträger antritt, weiß man eigentlich nie, was man von ihm halten soll. Aber das war der Academy eine „Oscar“-Nominierung wert, ebenso wie der Film selbst in der Königskategorie des „besten Films“… ???
 
Aber wenn es nur das wäre! Denn diese „Les Miserables“ sind nicht die Verfilmung des Romans, der den armen Valjean nach furchtbaren Galeerenjahren auf dem Weg zurück in die Bürgerlichkeit zeigt, immer bedroht von dem unmenschlichen Haß des Polizisten Javert, der sein Leben dieser Verfolgung des anderen widmet. Da sammelt sich über die Jahrzehnte auch einiges an französischer Geschichte an, wobei die „Barrikaden“ der Aufständischen 1848 einen Handlungs-Höhepunkt darstellen. Das läßt sich immer wieder ganz gut erzählen – aber nein, das es ist ja gar nicht! Es handelt sich hier vielmehr um die Leinwand-Version des ohnedies nicht sehr guten und langwierigen Musicals von Claude-Michel Schönberg und Alain Boublil, 1980 in Paris uraufgeführt, 1985 dann in der „internationalen“ Fassung in London zu sehen. Wien, die ehrgeizige Musical-Stadt, lieferte 1988 im Raimundtheater die deutschsprachige Erstaufführung. Der Erfolg ist zwar nicht zu leugnen, die Qualität vor allem der Musik blieb dennoch bescheiden.
 
Nun hat man das Musical also in voller Länge und ermüdender Breite auf die Leinwand gehievt, und das keinesfalls sehr begabt. Wenn der englische Fernsehregisseur Tom Hooper für seinen ersten wirklich großen Spielfilm „The King’s Speech“ vor drei Jahren den Regie-Oscar erhalten hat, so war das voll verdient. Darüber, daß „Les Miserables“ jetzt mit sieben (!!!) Oscar-Nominierungen ins Rennen geht, kann man sich nur an den Kopf greifen. Da ist man in der Werbung nicht nur unendlich stolz darauf, daß Schauspieler singen (was unterschiedlich klingt), sondern daß man den „echten“ Gesang (zwar zu Klavierbegleitung) gedreht hat. Der Orchestersound kam irgendwie nachher drüber. Also kein Playback, alles echt! Und obwohl es nichts Öderes gibt, als Sängern beim Singen zuzusehen, läßt Tom Hooper die Kamera Arie für Arie minutenlang in Großaufnahme auf den Gesichtern, wenn der Mund zu „echtem“ Gesang verzogen wird – man hätte es nicht schlechter lösen können.
 
Auch ist es sinnlos, ein Musical als solches abzufilmen, ohne sich um die Gesetze des anderen Mediums groß zu kümmern – aber genau das geschieht hier. Kaum ein Text wird gesprochen, so gut wie alles wird gnadenlos gesungen. Daraus ergibt sich, selbst bei so erfahrenen „Film“-Schauspielern, eine nicht zu vermeidende Unechtheit, die umso bitterer wird, je enger ihnen die Kamera auf den Leib rückt. Vieles wirkt hölzern, manches geradezu lächerlich übertrieben – wenn man Jean Valjean als total abgemagerten Sträfling kennenlernt (tatsächlich warten auch die Make-Up-Artists auf einen „Oscar“), sieht er geradezu entsetzlich aus. Aber den Vogel schießt dann Ann Hathaway (sie hofft auf einen Nebenrollen-„Oscar“) ab: Sie hat sich für die Fantine dermaßen zu einem ausgemergelten Skelett heruntergehungert, daß sie an die schrecklichen Eindrücke der KZ-Insassen gemahnt. Wenn sie zitternd ihr tragisches Schicksal erfüllt, ist so grausiges Ausstellen des Elends die billigste und ärgerlichste Spekulation…
 
Dafür darf ihr Töchterchen Cosette, zuerst das berühmte arme kleine Mädchen, dann die geliebte „Tochter“ des wohlhabend gewordenen Valjean, in der Gestalt von Amanda Seyfried als blondes Mädchenglück auf ihre Art ebenso verlogen und unerträglich sein.
 
Wen hält man in diesen quälenden zweidreiviertel Stunden eigentlich aus? Nur zwei Schmieristen, weil sie so herrlich unverschämt losbrettern: Helena Bonham Carter und Sacha Baron Cohen als das Verbrecher-Ehepaar Thénardier, das aus jedem Detail des Lebens Geld macht, haben Drive, Komik, Unverschämtheit, kurz und bündig: Leinwand-Leben. Der Rest klatscht sich laut, bombastisch, schwerfällig, künstlich tragisch und weitgehend unerträglich vor den Zuschauer hin. Auch nur ein einziger „Oscar“ für diese mißlungene Unglückseligkeit wäre zu viel.
 
Dr. Renate Wagner
Redaktion: Frank Becker