An der Grenze

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker

An der Grenze


Jetzt haben wir richtig Schnee. Der Lebensrhythmus ändert sich.
Heute paßt aber alles zusammen – die stille Wohnung, in der nur Oma und ich sind, das leise, undefinierbare Summen, das die Welt immer zu erfüllen scheint. Die Anderen sind ausgeflogen, und Oma schläft mit offenem Mund.
Ich sitze da und merke, daß ich alt bin. Ich sehe, daß ich ganz nahe an der Grenze zum Nichts lebe und ich begreife, daß ich da immer schon gewesen bin; bloß, ich habe es früher nicht gemerkt.
Andererseits war ich eben doch eine lange Zeit im Jetzt, viele Jahre. Habe ich es richtig oder falsch gemacht, waren es gute oder schlechte Jahre?
Ich merke, daß ich nicht der Richtige bin, dies zu bewerten. Das komplexe Material, aus dem diese vergangenen Jahre bestehen, erklärt nicht, was und wie es ist. Ich fühle nur, daß es ein sehr kostbarer Stoff ist. Vielleicht ist dieses Gefühl schon die richtige Bewertung?
 
 
© 2012 Karl Otto Mühl