Für eine Kunst des Alterns (2)

von Andreas Steffens

Dr. Andreas Steffens - Foto © Frank Becker

Für eine Kunst
des Alterns (2)

Uns mit der Unverfügbarkeit der elementaren Vorgänge des Lebens konfrontierend, ist das Alter nicht nur ein ästhetisches, sondern ein um vieles größeres ontologisches Unglück, wie Silvia Bovenschen in ihren ‚Notizen’ >Älter werden< betont (Bovenschen, Notizen, 98). Denn es reißt einen Abgrund auf zwischen dem Bewusstsein unseres ‚Ich’ und den Bedingungen seiner Verkörperung in unserem Leib. So sehr, daß es zur größten Anstrengung des Alters wird, sich mit ihm zu ‚versöhnen’ (Bovenschen, a.a.O., 95).
Von daher läßt die Aufgabe einer ‚Kunst des Alterns’ sich als Reifeprüfung der Lebenskunst genau bestimmen: mit der eigenen Endlichkeit nun auch ernst zu machen, indem der Prozeß des eigenen Alterns gestaltet wird, statt ihn einfach geschehen und über sich ergehen zu lassen. Sich dem Unvermeidlichen zu stellen, und ihm eigene Formen zu geben, statt es zu leugnen, in der Hoffnung, daß es vorüber ziehe wie ein Gewitter, oder einem noch möglichst lange erspart bleiben möge, macht die ‚Kunst des Alterns’ zu einer der elementaren Aufgaben im Umgang mit dem Unverfügbaren.  
Die manifeste Unfähigkeit, das Alter zu bewältigen, ist nämlich das bedrückendste Symptom einer Mangelhaftigkeit der Lebensausstattung des Menschen, die sich als unüberwindliche Kluft, als Abgrund zwischen Körperlichkeit und Bewusstsein offenbart. Wir ‚haben’ einen Körper, aber wir ‚sind’ unser ‚Leib’, die Einheit von physischem Organismus und seelischem Bewusstsein. Spätestens das Nachlassen der körperlichen Vermögen macht dies unbezweifelbar. Genau darin lauert das größte Elend des Alterns in seinem letzten Stadium, daß die Vermögen der Seele in dem Maße verkümmern, wie die des Körpers erlahmen.
Die juvenile Körperbetonung, die die Standardauffassung beherrscht, die unsere Gesellschaft von einer ‚richtigen’ Lebensführung hegt, hat zu dem vollständigen Versagen der Alterspflege geführt, sie als Verwahrung des versagenden Körpers zum Tode zu organisieren, bei gleichzeitiger Verwahrlosung der Seele, die jeden Rest an Menschenwürde zerstört.
Die Grundlage jeder möglichen ‚Kunst des Alterns’ muß deshalb die Stärkung der unkörperlichen Seite der Lebensführung sein. Sie muß beginnen, lange bevor der Körper anfängt, unzuverlässig zu werden.
In der Rückbildung der Körperfähigkeiten, auf deren selbstverständlicher Nutzung die Gewissheit einer selbstbestimmten Lebensführung so trügerisch beruht, beginnt die Welt, die man so lange hat ‚erobern’ müssen, sich allmählich wieder zu entziehen. Damit einher geht eine schleichende Entwirklichung des eigenen Seins in der Welt, dermaßen, wie man immer weniger Teil der äußeren Welt ist.
Dann wird es lebenswichtig, über eine eigene innere Welt zu verfügen. Zur ‚Kunst des Alterns’ gehört deshalb wesentlich eine lebenslange Anreicherung eines souveränen Innenlebens. Wer darüber gebietet, kann das Glück einer Unabhängigkeit von dem Körper erleben, dessen allmähliches Versagen ihn allem, was für seine Lebensführung selbstverständlich war, mehr und mehr entzieht. Kurz vor ihrem Tod schrieb die 93jährige Margarete Mitscherlich: Nach dem Aufwachen bleibe ich noch eine halbe Stunde (mindestens) im Bett – es ist eine sehr angenehme halbe Stunde: Mein Körper ist warm, entspannt, ich spüre ihn nur als etwas, was mit sich in Einklang ist und mich völlig in Ruhe läßt. So gut wie in dieser ersten Stunde gelingt es mir sonst nie, interessante Gespräche mit meinem Hirn zu führen und mein Ich – befreit von der Last des Körpers – von Thema zu Thema wandern zu lassen, wie es ihm gerade in den Sinn kommt. Manches, was bisher unverstanden blieb, verbindet sich, mein Hirn zeigt mir neue Wege des Verstehens (…). Nur wenn ich dann aufstehe, der Körper sich wieder unfreundlich bemerkbar macht, ist alles vorbei (Mitscherlich, Radikalität, 238).
Das Ziel der ‚Kunst des Alterns’ ist die Autonomie des eigenen Lebens auf dem Weg einer Lösung seines Sinns von dem Körper, der es gewährleistet, paradox zugespitzt: wer sie beherrscht, braucht keinen Körper mehr, um zu leben, wenn seiner beginnt, seinen Dienst einzustellen.
Daher rührt die doppelte Aufgabe des Alterns, den Körper zu schonen, und herauszufinden, was für das Leben der Seele das wirklich Wichtige ist, nicht überhaupt, sondern für einen selbst. Altern wird so zur wichtigsten Bewährungsprobe der Kunst des Unterscheidens. Die wichtigste Voraussetzung einer ‚Kunst des Alterns’ ist die seelische Urteilskraft, zwischen Wichtig und Unwichtig im eigenen Leben und dem der Menschen, die mit ihm verbunden sind, zu trennen, und dem Wichtigen Vorrang zu geben, wozu gehört, die daraus folgenden Konflikte auszuhalten und durchzukämpfen.
Deshalb ist sie so selten, gelingt sie so wenigen. Denn die kulturell vorgegebenen Gestalten unseres Lebens sehen sie nicht vor, eine Pädagogik der Urteilskraft gibt es nicht.
Das Vermögen existentieller Unterscheidung von Bedeutend und Unbedeutend betrifft nicht nur die Bedingungen eines Lebens; weit mehr die eines möglichen Nachlebens. Die Hoffnung darauf antwortet dem Skandal der Endlichkeit.
Vom fünfzigsten Lebensjahr an spätestens wird es fällig, Vorsorge für das eigene Gewesensein zu treffen. Allmählich verdrängt die Vergangenheit die Zukunft im Zeitkontingent des eigenen Lebens. Bis es nicht mehr vordringlich wichtig sein wird, was noch sein wird, sondern wie das, was war, gewesen sein wird.
Sich darum zu bemühen, hat mit Eitelkeit nichts zu tun. Es betrifft den Sinn unseres Lebens, wie sehr er in den individuellen Einzelfällen auch differieren mag. Was immer einer im Leben erreichte, es wird daran gemessen werden, ob es mit ihm aus der Welt verschwindet, oder ihn überdauert. Erinnert zu werden, garantiert einem gewesenen Menschenleben seine Zugehörigkeit zur Gattungsgemeinschaft der Menschen.
Die wirksamste Memorialvorsorge besteht - alttheologisch formuliert - in ‚guten Werken’ - wozu schon das Unterlassen von ‚schlechten’ gehört - , in der Herstellung bedeutender Werke der Kunst, der Wissenschaft, der Technik, sowie in der Anlage von ‚Erbschaften’ aller Art, von Schenkungen, Spenden und Stiftungen.
Spätestens hier kommt die Kunst ins Spiel. Sie ist nicht nur eine Metapher für die ‚Kunst des Alterns’; sie ist buchstäblich eines ihrer Werkzeuge. Nicht in dem Sinn, daß deren Beherrschung voraussetzte, daß ein jeder auf seine alten Tage noch zum Künstler werden müsse; wohl aber, sich mit Bewusstsein und in geübter Anwendung zunutze machen zu müssen, was jede Kunstfertigkeit wesentlich ausmacht: eine handelnde Vorstellung, eine Tat der Imagination zu sein. Davon, die eigene Vorstellungskraft nutzen zu können, hängt alles ab, was einem Menschen, der gezwungen ist, auf seine Körperlichkeit immer mehr zu verzichten, an sinnvoller Lebensführung ‚noch’ möglich bleibt.
Die ‚Kunst des Alterns’ ist also das genaue Gegenteil einer stoischen ‚ars moriendi’: die Ausbildung aller äußeren und inneren Fertigkeiten, derer es bedarf, um den Sinn eines eigenen Lebens gegen alle Beeinträchtigungen aufrechtzuerhalten, die sich aus der Körperstruktur unseres Daseins ergeben: so lange wie nur eben möglich dem gemäß leben zu können, was dem Sinn des eigenen Lebens, wie er sich einem in dessen Verlauf offenbart hat, gemäß ist. Die ‚Kunst des Alterns’ ist keine Kunst zu sterben, sondern die Kunst, zu leben, obwohl der Tod beschleunigt näher rückt.
Um die Verstörung des Zukunftsschwundes zu vermeiden oder zu verwinden, muß man lernen, ganz ‚gegenwärtig’ zu sein, um entdecken und annehmen zu können, was die vergehende Zeit einem bringt. Der entscheidende Griff einer gelingenden ‚Kunst des Alterns’ ist deshalb die Geste des Beginnens (vgl. Steffens, Beginnen), dem Vergehen, das sich, wie unbemerkt immer, an einem vollzieht, ein Entstehen entgegenzusetzen.
Dabei kommt es weniger darauf an, Verwirklichung anzustreben, als darauf, am Unerledigten festzuhalten, als gäbe es die Drohung einer dafür zu kurzen Zeit nicht. Das Glück des Alters sind nicht die oft beschworenen Erinnerungen, sondern ist die Kraft, an dem, was noch nicht getan wurde, unbeirrt als dem Sinnvollen des eigenen Lebens festzuhalten.
Der Tod als Ziel des Körperlebens verliert seinen lähmenden Schrecken angesichts der vergehenden Lebenszeit, wenn es gelingt, in Bewusstsein und Wahrnehmung des eigenen Lebens der objektiven Körperzeit eine subjektive Eigenzeit entgegenzusetzen. Stärkung der Genussfähigkeit und gesteigerte Aufmerksamkeit im Augenblick lassen sie am klarsten in Erscheinung treten, indem sie den Sinn des Lebens in einem Moment seiner Wahrnehmung verdichten.
So kann es gelingen, das Mißverhältnis zwischen Lebensbewusstsein und Körperleben wenigstens zu entschärfen, im Idealfall zu überwinden. Durch die Verinnerlichung einer Eigenzeit, die sich nach der sicheren Intuition dessen richtet, was der Sinn des eigenen Lebens ist, kann die Schere zwischen der Zeit, die man braucht, und der, die man nur hat, der Abgrund zwischen Lebenszeit und Weltzeit, sich verringern, wenn nicht sogar schließen.
Für die ‚Kunst des Alterns’ kommt es deshalb darauf an, ein strenges Regime des Unterscheidens zu führen, ein Regime der Auswahl dessen, was aus den unerschöpflichen Möglichkeiten des Lebens wichtig für meines ist, was unentbehrlich, was unbedeutend.
Eine möglichst strenge individuelle Askese im Warenhaus der zivilisatorischen Möglichkeiten setzt eine souveräne Ichkenntnis voraus, eine Selbst-Vertrautheit, wie sie nur in einer langen Übung eines selbstbestimmt geführten Lebens erworben wird. Die wichtigste Voraussetzung einer späteren ‚Kunst des Alterns’ ist deshalb eine frühe Erziehung zur Mündigkeit.
Nichts aber vollbringt ein Mensch alleine. Nicht einmal das Selbstsein. Auch dafür braucht es Partner. Welcher Art sie im Alter sein müssen, findet sich am Schluß der Klage des Oswald von Wolkenstein bezeichnet.
 
Man hofft auf’s Alter Tag um Tag,
Und wenn es kommt, ist nichts als Klag,
Weil man es nicht mehr mag.
      Und wenn mir ein guter Freund verzeiht,
      Weit komm ich da von fern,
      Gern will ich vor ihm schuldig sein.
 
(Wolkenstein, Lieder, Nr. 116; S. 275).
 
Die Liebe garantieren die Hormone und die Bedürfnisse aller Art; die Freundschaft aber ist ein Geschenk der Seelenwahlverwandtschaft. Auf sie kommt es besonders an, wenn das Körperleben an geteiltem Leben nicht mehr zuläßt, was an seine Funktionen gebunden ist, von der Sexualität bis zur Berufsarbeit. Dann rückt die Freundschaft ins Zentrum einer ‚Kunst des Alterns’. Dann hat das Füreinandereinstehen von Menschen, die sich ohne soziale Pflicht, noch pragmatische Nötigung in freien Stücken miteinander verbinden, sich als das höchste seelische Vermögen zu bewähren, das unsere Kultur hervorbrachte.
Dann aber wird es auch endgültig unbezweifelbar, daß die Jugend erworben haben muß, was das Alter brauchen wird.
 
 
Vortrag zur Eröffnung der Veranstaltungs-Reihe „Aging“
des Katholischen Bildungswerks Wuppertal, 22.10.2012
 
 
Literatur
 
Alsberg, Paul, Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung, Dresden 1922
Améry, Jean, Über das Altern. Revolte und Resignation, Stuttgart 1968
Beauvoir, Simone de, Das Alter (1970), Reinbek 1977
Benn, Gottfried, Altern als Problem für Künstler, in: Gesammelte Werke, hg. von  Dieter Wellershoff, Bd. 4,  1116-1146
Blumenberg, Hans, Lebenszeit und Weltzeit, Ffm 1986
Blumenberg, Hans, Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlaß hg. von Manfred Sommer, Ffm 2006
Blumenberg, Hans, Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger, Ffm 2007
Bovenschen, Silvia, Älter werden. Notizen, Ffm 2006
Deleuze, Gilles, Über die Philosophie, in: ders., Unterhandlungen 1972-1990 (1990), Ffm 1993, 197-226
Duras, Marguerite, Im Sommer abends um halb Elf. Roman (1960), Ffm 1990
Fuchs, Thomas, Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000
Jünger, Ernst, Siebzig verweht, II, Stuttgart 1981
Jünger, Ernst, Die Schere, Stuttgart 1990
Kluge, Alexander, Die Kunst, Unterschiede zu machen, Ffm 2003
Magris, Claudo, Der heiße Herbst der Ninon de Nenclos (1992), in: ders., Utopie und Entzauberung. Geschichten, Hoffnungen und Illusionen der Moderne (1999), München 2002; 2009, 138-145
Miller, Henry, Der französische Weg, in: ders., Opus Pistorum (1983), Reinbek 1984, 67-130
Mitscherlich, Margarete, Die Radikalität des Alters: Starrsinn oder Furchtlosigkeit?, in: dies., Die Radikalität des Alters. Einsichten einer Psychoanalytikerin, Ffm 2010, 227-240
Redon, Odilon, Selbstgespräch. Tagebücher und Aufzeichnungen 1867-1915,München 1971
Steffens, Andreas, Vom Beginnen, in: ders., Gerade genug. Essays und Miniaturen, Wuppertal 2010, 163-170
Steffens, Andreas, Ontoanthropologie. Vom Unverfügbaren und seinen Spuren, Wuppertal 2011
Vogelweide, Walther von der, Frau Welt ich hab von dir getrunken. Gedichte, hg. von Hubert Witt, Berlin 1979
Wolkenstein, Oswald von, Die Lieder, hg. von Klaus J. Schönmetzler, Essen 1990
 
 
© 2012 Dr. phil. habil. Andreas Steffens
andreassteffens@gmx.net