Die kostbare Balance

von Karl Otto Mühl
Die kostbare Balance
 
Wieder einen Tag später habe ich wieder eine andere Welt kennengelernt. Meine Frau hatte mich zu ihrem Töpferkurs mitgenommen und mich damit beruhigt, daß ich dort auch malen dürfte.
Malen kann ich nur schlecht und töpfern schon gar nicht, weil ich ein ungeschickter, umgelernter Linkshänder bin. Aber ich mag Farben und Kontraste, und das reichte, um an dem Riesentisch in Gesellschaft von fünf Frauen Malversuche zu unternehmen.
Das alles geschah so selbstverständlich, als wenn ich mir im Nebenzimmer eine Zeitung holte.
Wir saßen in einem großen Raum in einem Kellergeschoß mit großen Fenstern; es gehörte zu einem uralten bergischen Haus, das schwarz geschiefert war; das Haus lag einem steilen Hang in einem versteckten Stadtteil zwischen einigen ebenfalls uralten gehöftartigen Häusern, die alle über hundert Jahre alt waren. Es gehörte unserer Kunstlehrerin, die in Arbeitskleidung umherging, diskret den einen oder anderen Ratschlag erteilte und unentwegt lobte. Auch ich wurde gelobt, das sei ja eine richtige Geschichte.
Um mich herum eine Grafikerin, meine Frau, eine Lehrerin, eine Arbeitslose und eine gehbehinderte, gut gekleidete Frau, die von ihrem Mann gebracht worden war. Eine Art Gesellschaft vom Dachboden, aber ohne Gespräch über die Werte des Lebens.
Diese Situation in einem kahlen Kellerraum unter lauter eifrigen, stillen Menschen, der diskreten Lehrerin, dieser Gesellschaft ohne Ansprüche und Erwartungen, die Frauen fleißig den rotbraunen Ton knetend, ich zweifelnd, ob je einer die Krallen meines schwarzen Geiers erkennen würde, der rücksichtslos eine Schaufensterscheibe durchbrochen hatte. Mein Pinsel war zu dick für die Krallen, aber hier erwartete bis jetzt niemand, daß ich erkennbare Krallen malen würde.
Nach anderthalb Stunden fuhren wir heim, schweigsam und doch heiter. Wie bei vielen guten Dingen gab es nichts zu hinterfragen, nur zu erleben. Mir fiel ein, daß ich öfter erfahren zu haben glaube, wie gestaltendes Arbeiten innere Veränderungen hervorruft.
 
Einige Tage später fahren wir wieder in die Malschule, meine Gesellschaft vom Kellergeschoß, wie ich sie nenne. Der Spätsommer-Himmel ist zartblau, schmale Kondensstreifen ziehen sich über ihn als himmlische Versprechungen. Ich male ein Männergesicht, das durch das vergitterte, kleine Fenster einer meterdicken Mauer blickt.
Eigentlich hatte ich an ein Kloster gedacht, aber dann dürften da keine vergitterten Fenster sein.
Jeder von uns wirft hin und wieder einen neugierigen Blick auf das, was die Anderen machen. Meine Frau formt eine grazile Frau in Krinoline, die Grafikerin links von mir einen klobigen Torso; eine junge Frau mit vorwitziger Nase daneben eine witzige, afrikanisch anmutende Maske mit hängenden Mundwinkeln.
Zwischendurch gehe ich in den kaum gezähmten Garten am Hang hinter dem Haus und finde auf einem einsamen Stuhl eine Malerin, von der ich weiß, daß sie kaum mit anderen Menschen redet. Aber der Hortensienbusch vor ihr hat ihre gespannte Aufmerksamkeit und schaut auf sein entstehendes Double auf ihrem Malblock. Er wundert sich über den Eindruck von Fülle, den er ausstrahlt.
Als wir zum Schluß zum Auto gehen, schaue ich durch die Schlucht der aufsteigenden, kleinen Straße auf die alten bergischen Häuser, die sie bis oben zur Hauptstraße säumen. Es ist still und sonnig. In einem Vorgarten sitzt ein Paar und trinkt einträchtig Kaffee. Ich möchte ihnen eine lange, gute Zeit wünschen. Ich weiß, dieser Augenblick ist eine kostbare Balance. Katastrophen, die vielleicht kommen, werden nichts von diesem Augenblick wissen, der Glück heißt.



© 2012 Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern
Redaktion: Frank Becker