Lebensspuren

Norbert Zähringer: „Bis zum Ende der Welt“

von Jörg Aufenanger
Wo verdammt noch mal ist bloß
der Autor in diesem Roman versteckt?
 
Was führt einen Schriftsteller von fünfundvierzig Jahren, der also über einen Fundus aus einiger Lebenserfahrung verfügen sollte, dazu, einen solchen Roman zu schreiben, bei dem man geneigt ist zu fragen, wo steckt denn der Autor in der Geschichte, die er erzählt. Drei Lebenswege führt Norbert Zähringer zusammen, den einer jungen ukrainischen Frau, den eines deutschen Rentners und den eines portugiesischen Polizisten.
Nachdem ihre geliebte Großmutter gestorben ist, hat Anna keinen Menschen mehr auf der Welt außer ihren einbeinigen Vater, der sie aber mit seinen Saufkumpanen belagert und drangsaliert. Sie vermag sich nicht zu wehren, träumt davon, die Ukraine zu verlassen und lernt schließlich über die Kiewer Partneragentur „Transeuro Wedding“ in Laska einen deutschen Rentner kennen. Mit ihm zieht sie an Berlins Stadtrand nach Kladow in ein Reihenhaus. Doch der lange Arm des einbeinigen Vaters läßt sie von der ukrainischen Mafia entführen, die sie in ein Berliner Bordell verschleppt, aus dem sie aber entfliehen kann und dann mit Laska nach Portugal geht. Er verspricht ihr zwanzigtausend Euro, wenn sie ihm als schwerkrankem Mann bis in den Tod hinein Gesellschaft leistet. Eine Geschichte, die dem Arsenal eines „Schundromans“ entsprungen sein könnte.
 
In Kapitel fünf taucht plötzlich mit Yuri Fernao ein Icherzähler auf, der am Ende der westlichen Welt bei Sagres einen Polizeiposten besetzt. Er verrät uns, daß sein Vater der millionste Gastarbeiter in Deutschland war, er selbst in Köln aufgewachsen ist, bis er nach Portugal gegangen ist und sich seitdem als ein Wesen zwischen zwei Welten empfindet.
Als Leser vermutet man natürlich, die Lebenswege der drei Romanfiguren werden sich wie Parallelen schließlich treffen. Lange verbleiben sie in der Schwebe dieser Parallelen, was durchaus den Reiz der Erzählung ausmacht, weckt sie doch Neugier auf den Augenblick, da sie sich miteinander verknüpfen werden.
Immer wieder hatte Anna darauf spekuliert, den Rentner auszunehmen und verschwinden zu können, doch nach und nach kriecht sie in sein Leben. Seine Welt ist das Weltall, die Astronomie seine Leidenschaft. Auf dem Dach des Hauses an diesem Finis Terrae Portugals hat Laska ein Planetarium eingerichtet, aus dem heraus er und Anna Nacht für Nacht in den Himmel schauen, um einen noch unbekannten Stern zu entdecken, Laskas finaler Lebenswunsch. Mit dem Auge am Okular fiebert Anna bald dem mehr entgegen als er, liest sich in Bücher zur Kosmologie ein, um die Welt als Ganzes zu begreifen. Alles hängt mit allem zusammen ist die mehrfach vertretene Theorie, die nicht nur die Welt, sondern auch diesen Roman zusammenhält, eine Theorie, nach der wir alle entweder das Ergebnis unwahrscheinlicher Katastrophen seien oder „einer seltenen Glückssträhne bei Gottes endloser Würfelei“. Hat Norbert Zähringer den Roman vor allem geschrieben, um uns von dieser Theorie zu überzeugen und hat er aus diesem Grund alles mit allem verflochten? Annas Vater hat sein Bein bei der Katastrophe von Tschernobyl verloren, an einem entscheidenden Moment der Erzählung explodiert der Atommeiler von Fukushima, während der Polizeistandort von Sagres durch die portugiesische Sparpolitik aufgrund der Eurokrise von Schließung bedroht ist. Zähringer hat mit diesen Verknüpfungen eine Scheindramatik aufgebaut, auf die man auch hätte verzichten können. Letztlich finden die parallelen Geschichten von Laska und Anna sowie die Yuri Fernaos ein gemeinsames Ende in einer Katastrophe, in der am Ende der Welt indes ein heller Stern aufsteigt.
 
Man könnte den Roman als überkonstruiert abtun und die Geschichte als banal. Doch Norbert Zähringer vermag zum einen, die einzelnen Fäden der Erzählung souverän miteinander zu verknüpfen. Zum anderen zeichnet er mit Empathie seine drei Protagonisten und das in einer eleganten Sprache, in der bisweilen auch untergründiger Humor durchscheint. Eine bestechende erzählerische Leggerezza.
Im Verhältnis von Anna und Laska, das ja kein Liebesverhältnis ist, sondern nur das einer mittels der Astronomie gefundenen Nähe, schafft Zähringer anrührende Momente von Anmut und Würde, die das Buch schließlich zu einem Lesevergnügen machen. Aber auf der Suche nach dem Autor bin ich in seinem Roman nicht fündig geworden. In den großen Romanen aller Zeiten finden sich stets zumindest winzige Spuren eines Alter Ego. Wo verdammt noch mal ist bloß der Autor in diesem Roman versteckt?  
 
Norbert Zähringer: „Bis zum Ende der Welt“
© 2012 Rowohlt Verlag Reinbek, gebunden, 271 Seiten
19,95 €
 
Weitere Informationen: www.rowohlt.de
 

Zuerst erschienen in der Berliner Zeitung am 9.8.2012