Unfallstation

von Karl Otto Mühl
Unfallstation
 
Eine Woche ist das erst her“, sagt die Hauptbäckerin anerkennend, „und jetzt stehen Sie schon wieder eisern hier an Ihrem Platz“. Damit ist meine zuverlässige Präsenz hier im Stehcafé gemeint, in dem ich eine Woche nach meinem Unfall wieder auftrete.
 
Vor einer Woche bin ich in einem anderen Café eine steile Treppe hinabgestürzt, natürlich nichts ahnend, Schritt für Schritt spähend an einer Reihe Ausstellungsbilder entlang – bis ich in den Treppen-Abgang trat. Eine Fliesentreppe, hart, kantig; aber der erste Teil des Sturzes erfolgte vorwärts, sodaß ich auf dem ersten Absatz erst einmal mit dem Schädel gegen eine Wand donnerte. Die wiederum war styroporgedämmt, was günstig für den Kopf war. Noch jetzt spähe ich beim Besuch des Cafés manchmal nach dieser Wand, auf der mein Kopfabdruck zu sehen ist.
 
Kurz und gut, ich wachte nach kurzer Bewußtlosigkeit auf einer Trage zwischen zwei Sanitätern auf, bemerkte, wie sie noch im Krankenwagen dieses und jenes an mir überprüften, fand mich bald drauf in einer Reihe von Betten zwischen anderen Unfall- und Krankheitsopfern wieder, wurde von wechselnden Ärzten, die nach wenigen Augenblicken verschwanden, dieses und jenes gefragt, zu Messgeräten getragen und gefahren, geröntgt – nur eines gab es nicht mehr – die Zeit. Es war weder kurz- noch langweilig. Die Familie schien kurz aufzutreten und wieder zu verschwinden, genau wie die Zeit.
Ich wußte nicht, was es überhaupt noch gab.
 
Neben mir standen Paravents, die offensichtlich stumme Unfallopfer von mir trennten. Aber dahinter schien Personal bei einem von ihnen zu stehen, den sie immer aufforderten, zu hören, und den sie fragten, ob er sie verstände. Die Fragen waren drängend, wie bei einem Verhör. Ich glaube, ich wünschte, sie würden den Menschen in Ruhe lassen - oder wenigstens mich. Ich weiß nicht, wie es ausging, ich weiß auch nicht, ob es nach Stunden oder Tagen geschah, daß ich mich plötzlich allein in einem Krankenzimmer befand.
Auch hier wurde ich immer wieder von kometenhaft auftauchenden und verschwindenden Ärzten nach Beschwerden gefragt.
Dies alles passierte mit mir, dies alles schien auch ich zu sein, aber eben nicht mehr. Ich spürte weder Angst noch Sorge. Wer weiß, wo ich war, bei mir war ich anscheinend nicht.
 
Ich glaube, ich weiß jetzt, wie es ist, wenn man niedergeschmettert wird. Man ist außerhalb der Welt und der Zeit. Es gibt nicht einmal mehr Angst, aber man hat nichts davon, daß man sie nicht hat.
Heute denke ich, daß sich die Welt schwer getan hat ohne mich. Der kleine Birkensproß im Blumentopf in unserem Garten hat sich zaghaft ein Stück himmelwärts gewagt, ohne zu wissen, wie seine Zukunft aussehen wird. Unsere Tochter sitzt über einer Prüfungsarbeit über den Palästinakonflikt in einem Studentenzimmer mit Betonfußboden; und weit weg, in Nahost, im Gazastreifen zieht eine Dreizehnjährige die Decke ans Kinn und hofft, daß sie in der Nacht keine Detonationen, keine alarmierenden Stimmen, keine Schreie hören wird.
 
Welcher Mensch kann das Übermaß an Welt und Nicht-Welt übersehen, wenn in ihm einer hockt, der überlegt, wie er sich gegen die Schrecken dieser Welt wappnen kann, vielleicht sogar gegen den Tod? Der Körper denkt dabei mit, vielleicht denkt er an nutzlos schützende Muskel-Kontraktionen. Das Schicksal ist eben nur gestückelt zu ertragen.
Wir mögen uns gegen dieses oder jenes schützen. Vor dem Unendlichen schützt uns nichts denke ich. Aber manchmal denke ich auch, ich hätte mir die Gegend, in der fast nichts war, genauer ansehen sollen. Vielleicht ist sie eines Tages unsere Zuflucht.
 
 

© 2012 Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern