Hilflose Griffe

von Karl Otto Mühl
Hilflose Griffe
 
Wenn du siehst, wie ein Kind immer wieder nach etwas greift, was es haben möchte, immer wieder, und immer wieder schlägt es jemand auf die Finger, und sein Gesicht wird immer trostloser und verzweifelter, hoffnungsloser, dann kommen doch Wut und Tränen hoch. Sie bedrängen dich umso mehr, als du zu sehen meinst, daß dieses Kind noch nie von einer Mutter, einem Vater oder einem Mitmenschen Hilfe oder Nachsicht erwartet hat.
Damit will ich gar nicht sagen, daß Helmut lieblose Eltern hatte. Zwar wuchs er mit vier Geschwistern auf, konnte also nicht verhätschelt werden, und seine Mutter war keine besonders sanfte Frau, aber Fürsorge und Verständnis fand er bestimmt. Ich denke, er ist einfach so geworden, wie er im Ansatz war. Und er hatte dieses Gesicht, das mich in der Erinnerung immer wieder rührt, und er wurde auch der Kämpfer, der immer wieder geschlagen wurde, aber vor allen Dingen gehörte er zu den Freunden, die mich durch mein Leben begleitet haben.
 
Die Familie war katholisch, fand auch in den Notzeiten vor dem Kriege Unterstützung bei der Kirche, er war eine Zeit lang Ministrant, aber spätestens ab Sechzehn, als wir zusammen die Realschule abschlossen, kümmerte er sich nicht mehr um die Kirche.
Außerdem war er ein Angeber. Er machte gerne große Worte, aber das störte weder mich noch die meisten anderen, denn es klang seltsam aus seinem Munde, eher wie von einem Kind, das große Worte macht, und alle Umstehenden lächeln.
Von weitem erkannte man ihn bereits an seinem ruckartigen Gang, der begleitet wurde von einem ruckartigen Nach-Oben-Stoßen des Kopfes. Es ist diese eingeschliffene Bewegung hilflosen Trotzes, die meine Erinnerung immer wieder mit ihm verbindet. In der Schule mußte er sich einmal über eine Bank legen, und der Französischlehrer, der wehrlos einer rebellierenden Klasse gegenüberstand, verprügelte ihn mit dem Rohrstock. Danach stand Heinz auf, reckte den Kopf mit den schmalen Lippen nach oben und ging mit gequältem Lächeln zu seiner Bank.
Ich denke nicht gerne daran zurück. Es ist so unmenschlich und demütigend, wenn ein Mensch geschlagen wird. Die Menschheit wird entehrt.
 
Jetzt sollte man aber nicht erwarten, daß ich einen Verlierer schildern muß. Er hatte ein besseres Zeugnis als ich. Zwar absolvierte er wie ich die kaufmännische Lehre in zwei Jahren, aber in diesen zwei Jahren holte er sich in der Abendschule das Abitur, das ich mir auf so anstrengende Weise nicht zutraute. Wir sahen uns wenig, aber manchmal trafen wir uns zum Dauerlauf auf dem Sportplatz.
Gerade fällt mir ein, wie weiter der Himmel geworden wäre, wenn wir da schon gewußt hätten, daß wir heil aus dem Kriege heimkommen würden und noch viele Jahrzehnte einigermaßen gesund herumlaufen würden. Aber daß es jedes Mal eine Atempause des Schicksals war, wenn in der Morgensonne die Asche unter unseren Turnschuhen knirschte, das empfanden wir sehr wohl.
Seine Erfolge störten mich damals ebenso wenig wie seine Großsprecherei. Es lag daran, daß er mit seinem Aufwärtsstreben niemand treffen oder verdrängen wollte. Dieses Bestreben war ihm fremd. Aber groß dastehen, das wollte er schon.
 
Der erste große Schlag gelang ihn drei Jahre nach Kriegsende. Er eroberte eine vertriebene Gutsbesitzerstochter und heiratete sie, bekam mit ihr drei Kinder. Und alle hingen zeit seines Lebens zärtlich an ihm. An jedem Abend rief er sie abends an, denn er arbeitete meistens in anderen Städten. Ich besuchte ihn immer, wenn ich in die Städte kam, in denen er wohnte und arbeitete. Dann kochte und briet er für uns, holte, wie er betonte, seine besten Weine herauf, sprach nie über Gefühle, aber war immer für mich da.
In der dauernden Distanz entfremdete er sich seiner Frau und heiratete seine Sekretärin, eine anhängliche, gefügige, liebe, kleine Frau. In dieser Lebenssituation besuchte ich ihn oft. Meistens hatte er gerade die Stelle gewechselt, denn, obwohl es immer eine leitende, verantwortliche Position war, ging es nie länger als ein bis zwei Jahre gut.
„Der Helmut Z. ist kritiklos“, sollte einer seiner Chefs über ihn gesagt haben. Anscheinend begriff Helmut nie völlig, was damit gemeint war, denn er selbst erzählte es mir mit harmlosem Lächeln. Übrigens veröffentlichte er im Eigenverlag Werke über „Public Relations“; und alle diese Dinge zusammen führten dazu, daß Kosten entstanden, und er riesige Steuerschulden anhäufte.
 
Ich schreibe dies gar nicht gerne nieder, denn es war kein schönes Leben und, wenn ich ihn in München oder Frankfurt besuchte, warteten wir an den gemeinsamen Abenden unbewußt darauf, daß es schöner würde. Aber seine brave, kleine Frau starb, und eines Tages, vom Finanzamt gejagt, hatte er nicht einmal mehr Arbeit. Er schien verschwunden, aber ich machte ihn ausfindig.
Er wohnte in einer kleinen Stadt bei Köln in einem kahlen, kleinen Appartement. Es gab tatsächlich nur wenige, billige Möbelstücke. Eine benutzte Kaffeetasse stand im Waschbecken. Er reinigte sie und holte eine zweite, unförmige, aus dem Schrank. Umständlich bereitete er Pulverkaffee für uns beide, teilte ein Stück Streuselkuchen auf, das in Pergamentpapier eingewickelt war.
Einmal hielt er ein und blickte mich an: „Ist alles Scheiße, nicht?“
Wahrscheinlich versteckte er sich vor dem Finanzamt. Das sagte er mir jedoch nicht.
Täglich ging er Schwimmen. Das müsse er, sagte er, er habe da etwas an der Blase.
„Schlimm? fragte ich. Er antwortete nicht auf meine Frage, sondern sagte:
„Und nichts erreicht! Nichts!“
Er lehnte am Küchenschrank, ein blasser, hagerer Mann. Seine Worte klangen wie ein Vorwurf. An wen? An sich selbst? An die Welt?
„Du hast viel erreicht“, sagte ich, „mehr als nahezu alle, die ich kenne, mich eingeschlossen. Ich habe dich in den letzten sechzig Jahren noch nie ein abfälliges Wort über irgend jemanden in der Welt sagen hören. Du hast alle gelten lassen. Mehr als die anderen dich.“
 
Einige Wochen später rief mich seine Tochter an. „Sie haben schlechte Nachrichten“, sagte ich ahnungsvoll.
Es war Krebs bei ihm. Er war am Tag vor ihrem Anruf gestorben.
Wir kannten uns über sechzig Jahre, und ich denke, er war ein treuer Freund. Er hatte einen Schleier über Wahrheit und Realität geworfen, aber nicht über Treue und Freundschaft.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2012
Redaktion: Frank Becker