Herwarth Walden und „Der Sturm“

Das Wuppertaler Von der Heydt-Museum erinnert an ein heroisches Kapitel der Kunstgeschichte der Moderne

von Rainer K. Wick

E. Kesting: Herwarth Walden - Foto © Rainer K. Wick
Herwarth Walden
und „Der Sturm“
 
Das Wuppertaler Von der Heydt-Museum
erinnert an ein heroisches Kapitel
der Kunstgeschichte der Moderne
 
Mit einer als sensationell zu bezeichnenden Ausstellung erinnert das Wuppertaler Von der Heydt-Museum derzeit an den Galeristen und Kunstvermittler Herwarth Walden, der vor hundert Jahren in Berlin seine Sturm-Galerie eröffnete. Zwanzig Jahre lang war sie ein „Zentrum der Avantgarde“ (so der Untertitel der Ausstellung) und hat maßgeblich zur Durchsetzung der modernen Kunst in Deutschland beigetragen, bevor die Nazis ab 1933 der Moderne den Garaus machten.
 
Der Sturm: die Zeitschrift und die Galerie
 
1914 brach über Europa ein Sturm herein, der vier Jahre später, am Ende des ersten großen Krieges des 20. Jahrhunderts, eine alte Ordnung in Trümmer gelegt hatte. Stürmisch waren die Zeiten schon

Wassily Kandinsky, Riegsee. Dorfkirche, um 1908 - Foto © Rainer K. Wick
lange vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gewesen: Im Zeitalter des nationalistisch und imperialistisch gestimmten Wilhelminismus befand sich Deutschland mit seiner aggressiven Kolonial- und Flottenpolitik seit Jahren auf Konfliktkurs mit anderen europäischen Großmächten, und auch in Kunst und Kultur waren stürmische Zeiten angebrochen. Es war eine Epoche des Um- und Aufbruchs. In der Bildenden Kunst machten Kubisten und Expressionisten Furore, und Künstler wie Kandinsky schickten sich an, die Kunst an die Gegenstandslosigkeit heranzuführen.
Etwas mehr als vier Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, am 3. März 1910, hatte der 1878 geborene Herwarth Walden in Berlin die erste Ausgabe einer Avantgarde-Zeitschrift erscheinen lassen, die den Titel „Der Sturm“ trug. Walden machte unmißverständlich klar, daß es sich um das Sprachrohr der progressiven Kulturschaffenden selbst handeln sollte: „Der Sturm ist das Blatt der Unabhängigen. Kultur und Kunst der heutigen Zeit werden kritisch bewertet. In dieser Zeitschrift äußern sich nur Persönlichkeiten, die eigene Gedanken und eigene Anschauungen haben. Ausgeschlossen ist jede Art von Journalismus und Feuilletonismus.“ Zwei Jahre später, am 12. März 1912, gründete Walden, der eigentlich Georg Lewin hieß und ausgebildeter Pianist war, in Berlin eine Kunstgalerie, die Sturm-Galerie. Der Name war Programm, ging es hier doch um die Präsentation und Vermittlung der revolutionärsten Strömungen der damaligen Zeitkunst. Vermutlich war es die erste Frau Waldens, die Wuppertaler expressionistische Dichterin und Zeichnerin Else Lasker-Schüler, die ihrem Mann den Namen „Sturm“ vorgeschlagen hatte, wie sie wohl auch für das Pseudonym Herwarth Walden verantwortlich zeichnete.
 

Franz Marc, Die Pferde II, 1913 - Foto © Rainer K. Wick

Kokoschka, Blauer Reiter und Futuristen
 
Den Kern der ersten Sturm-Ausstellung bildeten Arbeiten der Künstler des Münchner „Blauen Reiter“ – Franz Marc, Wassily Kandinsky und August Macke – sowie des Wiener Expressionisten Oskar Kokoschka, der seinerzeit als „Oberwildling“ diffamiert wurde. Die Werke dieser Künstler, heute als Meisterwerke der Moderne gefeiert, standen damals in schärfster Opposition zum akademischen Kunstverständnis, wie es von Kaiser Wilhelm II. persönlich gefordert und gefördert wurde.
Daß Walden in seiner Galerie den progressivsten Tendenzen der Gegenwartskunst ein Forum bot, zeigte auch die zweite Sturm-Ausstellung, die schon einen Monat später, im April/Mai 1912 stattfand und der Öffentlichkeit Werke der italienischen Futuristen – Boccioni, Carrà, Russolo und Severini – präsentierte. Anläßlich dieser Ausstellung erschien auch Marinettis futuristisches Manifest von 1909 erstmals in deutscher Sprache – ein Dokument radikalen Veränderungswillens, in dem der in Italien allgemein verbreitete Vergangenheitskult (Passatismus) angegriffen und die Zerstörung von Bibliotheken, Museen und Akademien gefordert wurden, in dem der modernen Technik gehuldigt und die Maschine und ihre Geschwindigkeit gefeiert wurden („Ein Rennwagen … ist schöner als die Nike von Samothrake“), und in dem Patriotismus und Militarismus propagiert und der Krieg als Hygiene der Menschheit begrüßt wurden.
 
Erster Deutscher Herbstsalon
 
Zu einem Höhepunkt der Ausstellungsaktivitäten Waldens wurde im Jahr 1913 der Erste Deutsche Herbstsalon mit etwa 400 Werken von mehr als 80 Künstlern. Gedacht war diese Schau als Korrektiv zur großen Kölner Sonderbund-Ausstellung des Jahres 1912, die neben Arbeiten zeitgenössischer Künstler mit 125 Werken van Goghs, Gauguins, Cézannes und Munchs die Frage nach dem Woher der Moderne zu beantworten suchte. Dagegen setzte Walden (mit Ausnahme einer 22 Arbeiten umfassenden Retrospektive des naiven Malers Henri Rousseau) ausschließlich auf das aktuellste Kunstschaffen. So wurden nicht nur Kokoschka, die „Blaue Reiter“-Künstler und die italienischen Futuristen erneut gezeigt, sondern Arbeiten in Deutschland noch kaum bekannter Künstler der internationalen Avantgarde: der französische „Orphist“ Robert Delaunay allein mit 21 Arbeiten, die Pariser Kubisten Jean Metzinger und Albert Gleizes mit je einer Arbeit (Picasso fehlte allerdings, da er vertraglich anderweitig verpflichtet war), der Deutsch-Amerikaner Lyonel Feininger mit 4, der Schweizer Paul Klee mit 22, der Prager Kubist Emil Filla mit 4 und der russische „Rayonist“ Michail Larionow mit 3 Arbeiten.


Michail Larionow, Die Soldatenbraut, 1911-12 - Foto © Rainer K. Wick

Ein besonderes Faible hatte Walden für die russische Moderne. So zeigte er nicht nur Kandinsky, Larionow, dessen Partnerin Natalia Gontscharowa und den Bildhauer Alexander Archipenko, sondern kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch mehr als 30 Arbeiten von Marc Chagall. Zu erwähnen ist, daß Walden – zur damaligen Zeit keineswegs selbstverständlich – auch progressiven Künstlerinnen eine Plattform bot, meist Frauen oder Partnerinnen der von ihm vertretenen Künstler, so neben der erwähnten Natalia Gontscharowa etwa Sonia Delaunay, Gabriele Münter (damals Lebensgefährtin Kandinskys) oder die lange vergessene Belgierin Marthe Donas, Freundin Alexander Archipenkos, die nun mit ihren kubistischen Arbeiten, meistens Zeichnungen, im Zuge der Wuppertaler Ausstellung gleichsam eine Auferstehung erlebt.
 
Krieg und Nachkriegszeit
 

Baumeister, Bild T 21, 1921 - Foto ©  Rainer K. Wick
Trotz gewisser Einschränkungen konnte Walden seine Galerietätigkeit auch während des Ersten Weltkriegs fortsetzen. Mit George Muche, der 1916 Lehrer an der Sturm-Kunstschule wurde, Lothar Schreyer, der 1918 die Leitung der expressionistischen Sturm-Bühne übernahm, Johannes Itten und – nach dem Krieg – László Moholy-Nagy traten Künstler in den Sturm-Kreis, die, ebenso wie Kandinsky, Feininger, Schlemmer und Klee, als Lehrer am 1919 in Weimar gegründeten Bauhaus maßgeblich zur Profilierung dieser progressivsten Kunstschule der Weimarer Republik beitragen sollten. Leider wird dieser Aspekt weder in dem exzellenten Katalogbuch noch in dem ergänzenden, monumentalen Aufsatzband zur Ausstellung vertiefend behandelt.
Regelmäßig wird „Der Sturm“ mit dem Expressionismus identifiziert. Daß dies zu kurz gegriffen ist, zeigen Herwarth Waldens Aktivitäten in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als er – in geradezu obsessiver Weise immer auf der Jagd nach Neuem – Schwitters’ dadaistische „Merz“-Kunst zeigte oder sich der Spielarten des Konstruktivismus annahm, sei es dem anthropozentrische Konstruktivismus eines Oskar Schlemmer und Willi Baumeister oder dem geometrischen Konstruktivismus eines Walter Dexel, eines Moholy-Nagy, eines Lajos Kassák oder eines Victor Servranckx. Immer am Puls der Zeit, blieb Walden auch in der Weimarer Republik einer der einflußreichsten Kunstvermittler, bevor er 1932 in die Sowjetunion emigrierte, wo er 1941 dem stalinistischen Terror zum Opfer fiel. Wie die Künstler ihren Galeristen sahen, dokumentieren in der Wuppertaler Ausstellung einige eindrucksvolle Porträts Herwarth Waldens, immer mit der charakteristischen Mähne, so Kokoschkas expressionistisches Bildnis von 1910, William Wauers großartige, kubistisch inspirierte Bronze von 1917 und Edmund Kestings giftig-gelbes Porträt von 1932, das letzte Bildnis dieses Ausnahmegaleristen, bevor er Deutschland verließ.
 
Gelungener Parcours
 
In einem gut gegliederten Parcours mit hochrangigen Gemälden und Skulpturen, die aus Museen und Privatsammlungen in aller Welt zusammengetragen wurden, kann der Besucher der Wuppertaler Ausstellung zwei heroische Jahrzehnte der Moderne des 20. Jahrhunderts anschaulich nachvollziehen. Es ist das besondere Verdienst des Museumsdirektors Gerhard Finckh und der Kuratorin Antje Birthälmer, daß nicht eine beliebige Werkauswahl prominenter Sturm-Künstler offeriert wird, sondern daß von den etwa 200 Exponaten ca. 90% einstmals tatsächlich in der Sturm-Galerie gezeigt wurden und damit ein überaus authentischer Eindruck von den avancierten Aktivitäten


Johannes Itten Der Raucher, 1915 -Die Begegnung, 1916 - Foto © Rainer K. Wick


Waldens gewonnen werden kann. Zwar sind es die Kunstwerke selbst, die im Mittelpunkt der Wuppertaler Ausstellung stehen und dem Betrachter ein „Highlight“ nach dem anderen offerieren, doch macht die Ausstellung auch deutlich, daß Kunst soziologisch erst durch einen komplexen Vermittlungsprozeß zu dem wird, als was wir sie gemeinhin wahrnehmen. In diesem Prozeß spielen neben der Kunstpublizistik, den Sammlern, den Museen und der Kunstwissenschaft vor allem mutige und weitblickende Kunsthändler eine maßgebliche Rolle, die oft die ersten sind, die der neuen Kunst Öffentlichkeit verschaffen und zum Durchbruch verhelfen. Genau dies war die historische Leistung Herwarth Waldens, die mit der aktuellen Wuppertaler Ausstellung auf eindrucksvolle Weise ins Bewußtsein gehoben wird.
Zur Ausstellung ist ein umfangreiches, von Antje Birthälmer und Gerhard Finckh herausgegebenes Katalogbuch erschienen, das eine ausgezeichnete Ergänzung der großen Sturm-Monografie von Georg Brühl (Edition Leipzig, 1983) und des Delmenhorster Kataloges „Der Sturm im Berlin der zehner Jahre“ (2000) darstellt. Wem diese fundierte Darstellung nicht reicht, wird sich in dem knapp sechshundert Seiten umfassenden Aufsatzband nahezu umfassend informieren können – unter anderem auch über die Rolle, die das Rheinland und insbesondere Wuppertal (damals noch als Elberfeld und Barmen kommunal selbständig) für die frühen Aktivitäten Waldens spielten. Erarbeitet wurde dieser Aufsatzband mit 30 Einzelbeiträgen vom Institut für Kunstgeschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf unter der Leitung von Andrea von Hülsen-Esch.
 

László Moholy-Nagy, QXX, 1923 - Foto © Rainer K. Wick

Der Sturm. Zentrum der Avantgarde

Von der Heydt-Museum Wuppertal bis 10.06.2012
 
Turmhof 8 - 42103 Wuppertal
 

Begleitende Literatur:
Der Sturm. Zentrum der Avantgarde, Bd. I (Katalogbuch), hrsg. v. Antje Birthälmer und Gerhard Finckh, Wuppertal 2012 (Eigenverlag des Museums), 360, S., zahlreiche Abbildungen, ISBN 978-3-89202-081-3; 25,- €
Der Sturm. Zentrum der Avantgarde, Bd. II (Aufsatzband), hrsg. v. Andrea Hülsen-Esch und Gerhard Finckh, Wuppertal 2012 (Eigenverlag des Museums), 595 S., zahlreiche Abbildungen, ISBN 978-3-89202-082-0; 25,- €; beide Bände zusammen 40,- €.